Der Mann, der durch die Wand gehen konnte by Marcel Aymé

Der Mann, der durch die Wand gehen konnte by Marcel Aymé

Autor:Marcel Aymé [Aymé, Marcel]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt
veröffentlicht: 2020-01-25T16:00:00+00:00


Poldevische Legende

In der Stadt Cstwertsksk lebte ein altes Fräulein mit Namen Marichella Borboie, die sich wegen ihrer Frömmigkeit und Jungfräulichkeit großen Ruhm erworben hatte. Sie ging wenigstens einmal täglich zur Messe, zweimal wöchentlich zur Kommunion, gab reichlich für die Kirchenkollekte, stickte Altardecken und verteilte Almosen unter die würdigsten Armen. Da sie jahraus jahrein immer Schwarz trug, mit Männern nur in den dringendsten Fällen redete und dann stets mit niedergeschlagenen Augen, erregte sie keinerlei häßliche Gedanken, die zur Sünde der Wollust verführt hätten und ihr selbst unbekannt waren. Und als wollte Gott ihr Gelegenheit geben, die höchste Vollendung zu erreichen, hatte er ihr eine schwere und schmerzliche Prüfung auferlegt, von der ihre Frömmigkeit geradezu zu zehren schien ‒ ein Wunder von einem inbrünstigen Herzen.

Fräulein Borboie hatte mit liebevoller und wachsamer Sorgfalt einen verwaisten Neffen aufgezogen, er hieß mit Vornamen Bobislas. Die alte Jungfer hatte dieses liebenswürdige vielversprechende Kind, das sie dem Anwaltsberuf zuführen wollte, dem Staatsgymnasium anvertraut, da sie selbst ahnungslos war und die Lehrer dieser Schule in gutem Ruf standen; dort wurde er bald sittlich verdorben. Vor allem wurde ihm der Philosophiekurs zum Verhängnis, wie das oft durch den Unterricht atheistischer Professoren passiert. Er studierte dort den Materialismus der menschlichen Leidenschaften, nur um sich von seinen eigenen unterjochen zu lassen und die Leidenschaften anderer auszunutzen. Er rauchte, trank und sah die Frauen an mit Augen, die von übler Gier leuchteten. Da er nie solche Augen machte, wenn er seine alte Tante ansah, und da ihn das Weintrinken nur lustig machte, so daß sein Benehmen auf Rechnung der guten Laune gehen konnte, kam sie überhaupt nicht auf die Idee, daß ihr Neffe auf Abwege geraten war. Als Bobislas das Gymnasium absolviert hatte, kam er zu einem Notar in Cstwertsksk, um dort praktisch zu arbeiten, und im Laufe dieser Lehrzeit kam seine ganze Niedertracht zum Vorschein. Eines Nachmittags, als der Notar fortgegangen war, stahl Bobislas Geld aus der Kasse, vergewaltigte die Frau des Notars und ihre beiden Dienstmädchen und zwang sie danach, ihn in den Keller zu begleiten und sich mit ihm zu betrinken mit Wodka und Wein. Zum Glück waren die sieben Töchter des Notars nicht zu Hause, aber der Schaden war deshalb nicht weniger groß. Der beleidigte und bestohlene Mann warf den Angestellten hinaus und beschwerte sich bei Fräulein Borboie.

Das Herz brach dem alten Fräulein bei der Enthüllung solcher Verderbtheit eines Jugendlichen, sie trug ihren Schmerz vor Gottes Thron und unternahm mutig den Versuch, ihren Neffen wieder auf den rechten Weg zu bringen. Es war verlorene Liebesmühe. Nachdem er zehn verschiedene Berufe versucht hatte und sich in keinem hatte halten können, geriet er von einem Frevel in den anderen. In der Stadt Cstwertsksk redete man nur noch von seiner Schlechtigkeit, von seinen Orgien, seinen Zankereien, von den jungen Mädchen und Frauen, die er in Schande und Unehre brachte, und den Dirnen, mit denen er sich einließ. Fünf Jahre hindurch hoffte Fräulein Borboie, daß er sich eines Tages bessern würde, überschüttete ihn unermüdlich mit guten Ratschlägen und frommen Ermahnungen und gab ihm außerdem alles nötige Geld, damit diese Früchte trügen.



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