Der lange Weg nach Westen II by Heinrich August Winkler
Autor:Heinrich August Winkler [Winkler, Heinrich August]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: History, Reference
ISBN: 9783406660504
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2014-01-20T23:00:00+00:00
Die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte erfolgte in den achtziger Jahren unter den Begriffen «Erbe» und «Tradition». «Erbe» bezeichnete alles, was die Vergangenheit der Gegenwart an Positivem und Negativem hinterlassen hatte. Was fortwirken und darum gepflegt werden sollte, gehörte zur «Tradition». Im Zentrum dieser Tradition stand das «revolutionäre Erbe» der Arbeiterklasse. Dazu kamen das weitere «humanistisch-progressive Erbe» und alles, was sich sonst noch als «positives Erbe» bewerten ließ. Der «negative» Teil des Erbes hatte auch seine Heimstatt, aber nicht in der DDR, sondern dort, wo weder eine «antifaschistisch-demokratische Umwälzung» noch der «Aufbau des Sozialismus» stattgefunden hatte, also auch keine «entwickelte sozialistische Gesellschaft» bestand: in der «kapitalistischen» und «imperialistischen» Bundesrepublik. So sollten es jedenfalls die Deutschen, und namentlich die Deutschen in der DDR, sehen. Doch das Ernstnehmen des Erbes konnte auch eine ganz andere Wirkung zeitigen als die von der SED gewünschte, nämlich eine Wiederentdeckung deutscher Gemeinsamkeiten, die den ideologischen Alleinvertretungsanspruch der DDR zu untergraben drohte.
Von «Revision» weithin unberührt blieben die Geschichte von Kommunismus, Sozialdemokratie und «Faschismus» sowie die Geschichte seit 1945 – also die Hauptmasse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Thesen des Zentralkomitees der SED zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD vom Juni 1988 waren, zum Mißfallen einiger Historiker an der Akademie der Wissenschaften der DDR und an der Karl-Marx-Universität Leipzig, so doktrinär parteilich wie eh und je. Die Herrschaft des Nationalsozialismus wurde nach wie vor im Lichte der alten Formeln von der offenen terroristischen Diktatur der reaktionärsten Gruppen des Finanzkapitals abgehandelt. Der Antisemitismus und die Ermordung der europäischen Juden standen nicht im Mittelpunkt der marxistisch-leninistischen Auseinandersetzung mit dem «Faschismus»; noch um 1970 verschwiegen Darstellungen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, daß Juden die Hauptopfer der von der SS betriebenen systematischen Menschenvernichtung in Polen waren.
Die Befangenheit gegenüber dem nationalsozialistischen Rassenwahn und seinen Folgen hatte einen Grund in ideologischer Blickverengung: Wer Politik aus Ökonomie abzuleiten gewohnt war, konnte die zutiefst irrationalen Antriebskräfte des Nationalsozialismus nicht erkennen. Ein anderer Grund war der «Antizionismus» Stalinscher Prägung, den die DDR auch in den achtziger Jahren noch nicht überwunden hatte. Die SED war die Erbin der antifaschistischen KPD und die Verbündete der siegreichen Sowjetunion. Infolgedessen rechnete sie sich und ihren Staat ebenfalls zu den «Siegern der Geschichte» und sah sich schon deshalb nicht genötigt, mit der deutschen Vergangenheit der Jahre 1933 bis 1945 selbstkritisch ins Gericht zu gehen.
Der Entdogmatisierung des Geschichtsbildes waren also enge Grenzen gesetzt. An den Schulen und Hochschulen galten ohnehin unverändert strenge Vorgaben für die Behandlung der Geschichte. Der vom Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen erlassene «Studienplan für die Fachrichtung Geschichte in der Grundstudienrichtung Geschichtswissenschaften zur Ausbildung an Universitäten und Hochschulen der DDR» von 1984 beschrieb das «Ausbildungs- und Erziehungsziel» hinreichend deutlich: «Die Studenten der Fachrichtung Geschichte werden befähigt, im Auftrag der Arbeiterklasse und ihrer Partei aktiv und schöpferisch an der Lösung gesellschaftlicher Entwicklungsprobleme mitzuwirken, historische Erfahrungen und Lehren, Erkenntnisse der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft zu verbreiten, sich mit der bürgerlichen und der revisionistischen Geschichtsideologie parteilich auseinanderzusetzen und zur Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft beizutragen … Die Studenten werden befähigt, als Propagandisten zur sozialistischen
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