Der Krieg und das Mädchen by Jürgen Seidel

Der Krieg und das Mädchen by Jürgen Seidel

Autor:Jürgen Seidel
Die sprache: deu
Format: mobi
Tags: prose, love, history
veröffentlicht: 2020-08-16T15:53:17+00:00


Das Mirakel

Die Blutbuche auf dem Schulhof bot Schatten und Schutz, während sie rauchten. Zwar hatte der Direx erst vor wenigen Tagen noch einmal ein striktes Verbot ausgesprochen, doch seit alle Welt vom Krieg sprach, interessierte das niemanden mehr. Was also sollten derlei Vorschriften? Man nahm sie lachend zur Kenntnis und zündete sich eine neue Zigarette an. Irgendwie hatte Fritz bislang an so etwas wie einen Sinn des Lebens geglaubt oder wenigstens daran, dass es vernünftig sei, danach zu streben. Davon war kaum etwas geblieben. Die Erwachsenen schienen den Verstand zu verlieren, ja, es bestand für ihn der Verdacht, dass sie nie Verstand besessen hatten.

Seine »Entgleisung« im Büro des Rektors hatte zwar nicht, wie befürchtet, den Schulverweis nach sich gezogen, wohl aber bereits am Morgen eine unangenehme Konfrontation.

Dr. Kemmerling persönlich war in der Schule erschienen. Fritz war erneut zusammen mit dessen Filius ins Zimmer des Direx zitiert worden und hatte einen ersten Anschiss über sich ergehen lassen müssen. Das sei nur der Anfang von dem, worauf er, Fritz, sich schon einmal »seelisch« einstellen könne, erklärte der gekränkte Herr Papa. Der Sohn machte währenddessen aus der Wonne seiner Schadenfreude kein Hehl und schnitt Fratzen, die nur Fritz sehen konnte, weil Kemmerling, verschlagen, wie er war, ein Stück hinter seinem Vater und dem Direx auf einem Holzstuhl Platz genommen hatte, wo er unentwegt mit Armen und Beinen zappelte.

Wenn er, Fritz, die Lehranstalt nicht unverzüglich zu verlassen hätte, dann sei das einzig und allein der Großzügigkeit des Schülers Kemmerling zu schulden, erklärte der Direx. Der habe sich nämlich trotz der erlittenen Demütigung dankenswerterweise für seinen Mitschüler eingesetzt. – Die Behauptung fand Fritz so unverfroren, dass er um ein Haar erneut aufgesprungen und ausfallend geworden wäre. Wissen Sie, was ich glaube, Herr Dr. Kemmerling?, hätte er zu gerne geschrien. Ich glaube, dass Sie auch so ein Geldsack sind, der am Krieg verdienen wird, während ihm das Vaterland und seine Menschen scheißegal sind. Die Lust loszubrüllen, war riesengroß gewesen. Aber er hatte die Zähne zusammengebissen, das konnte man ja schon mal üben, für den Fall, dass es demnächst wirklich »losging«, das »allgemeine Heulen und Zähneklappern«, wie Janota den Ausbruch des Kriegs und seine Folgen gerne umschrieben hatte.

Der Pedell hatte noch nicht die Glocke zur Pause geläutet. Fritz und Bloemacher waren mit der Klassenarbeit schneller als der Rest fertig geworden und hatten auf den Hof gehen dürfen. »Der Lohn der Genialität«, hatte Rasmus es auf der Treppe kommentiert.

Fritz zog an seiner Zigarette und schenkte dem Freund einen beherzt zärtlichen Blick. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich Kemmerling töten werde? Er hat es verdient, und der Krieg macht es sowieso einerlei, ob jemand lebt oder stirbt.« Die Erinnerung an den Pullman-Waggon, die Gespräche am Donnerstag und vor allem die Gefühle, als Rasmus ihn alleine ließ, gingen ihm durch den Sinn. Er hatte den Schmerz keine Minute vergessen und behielt Bloemachers Miene im Blick, um etwas herauszulesen.

»Du willst bloß erleben, wie es sich anfühlt«, stellte Bloemacher fest. »Das Töten. Warte einfach, bis wir im Felde sind, dann kannst du es so oft tun, wie du willst.



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