Der Geschichtenerzähler oder das Geheimnis des Glücks by Izzy Joel ben
Autor:Izzy, Joel ben [Izzy, Joel ben]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Herder GmbH
veröffentlicht: 2015-04-29T16:00:00+00:00
Kapitel 8
Die Weisheiten aus Chelm
Irgendwo in den Bergen Polens, auf dem Weg zwischen Warschau und Chotzenplotz, gibt es ein winzig kleines Dörfchen, das Chelm heißt. Die Leute von Chelm sind die größten Narren auf der ganzen Welt, auch wenn sie das selbst nicht so sehen. Ganz im Gegenteil, sie sind davon überzeugt, die weisesten Menschen auf der ganzen weiten Welt zu sein, und ihre Gemeindeältesten sind die weisesten unter den Weisen.
Sie verbringen ihre Tage mit der Betrachtung existenzieller Fragen folgender Art: „Was ist wichtiger, die Sonne oder der Mond?“ Eine solche Frage kann das ganze Dorf wochenlang beschäftigen und spalten, bis der Gegenstand schließlich von den Gemeindeältesten höchstpersönlich aufgegriffen und sorgfältig abgewogen wird. Dabei streichen sie sich durch die Bärte und ziehen ihre Augenbrauen zusammen. Schließlich nimmt sich Chaimyonkel der Streitfrage an. Er ist der weiseste der Gemeindeältesten, und er beschließt, dass der Mond viel wichtiger ist, weil er nachts scheint, wenn es dunkel ist und wir das Licht notwendig brauchen.
Seine Weisheit war es auch, die die Gemeinde zur Vernunft brachte, als eine Tragödie das Dorf heimsuchte. Eines Nachts nämlich brach ein fürchterliches Feuer aus, und die Leute aus Chelm kämpften die ganze Nacht, um die gewaltigen Flammen zu löschen. Am Morgen fluchten alle über das Feuer, nur Chaimyonkel stimmte nicht in den Klagegesang mit ein.
„Das Feuer war ein Segen!“, sagte er. „Denn es brachte uns Licht! Und wie hätten wir ohne Licht das Feuer je löschen können?“
Nach Chelm zu gelangen ist sehr schwer, denn der Weg dorthin ist voller Gefahren. Um es finden zu können, muss man sich zunächst verlaufen. Man läuft an einem sonnigen Tag von Warschau los. Plötzlich kommt ein Schneesturm auf. Der Tag wird auf einmal zur Nacht, während man sich durch den Schnee kämpft und rechts von links nicht mehr unterscheiden kann. Genau an dieser Stelle muss man links abbiegen und so lange gehen, bis man einen Mann sieht, der unter einer Straßenlaterne etwas zu suchen scheint.
„Haben Sie etwas verloren?“, fragt man.
„Ja, meine Schlüssel.“
Also beugt man sich vor, um dem Menschen zu helfen, allerdings ohne Erfolg.
„Wo genau haben Sie sie verloren?“, entschließt man sich zu fragen.
„Dort unten, die Straße runter, beim Tempel.“
„Warum suchen Sie dann hier?“
„Das Licht ist hier besser.“
Erst dann, wenn Weisheit und Dummheit nahtlos ineinander übergehen, kann man sicher sein, dass man in Chelm angekommen ist.
„ACH, ICH VERSTEHE“, sagte Lenny schließlich.
Ich stand vielleicht fünf Minuten auf seiner Veranda, aber es kam mir vor wie eine Stunde, denn er stellte mir eine Frage nach der anderen und wartete darauf, dass ich antwortete. Aber ich sagte nichts, versuchte es nicht einmal. So gern ich ihm auch vermitteln wollte, was ich gelernt hatte, es schien mir widersinnig, es ihm zu erzählen.
Er zeigte zunächst keine Reaktion, bat mich herein und bot mir einen Platz vor dem Ofen an. Erst viel später sagte er etwas.
„Die Leute denken, dass es beim Geschichtenerzählen um das Sprechen geht, aber dem ist nicht so. Es geht um die Stille und darum, dieser Stille eine Form zu geben. Stille ist unsere Grundlage. Sie ist der Lehm, aus dem unsere Welt gemacht ist, der Marmor, den wir abtragen.
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