Der Geisterfahrer - Die Erzaehlungen by Franz Hohler

Der Geisterfahrer - Die Erzaehlungen by Franz Hohler

Autor:Franz Hohler
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand Literaturverlag
veröffentlicht: 2013-02-15T05:00:00+00:00


Die Rechnung

Geschichten haben die verschiedensten Ausgangspunkte. Eine zufällige Begegnung, ein falsches Wort, eine unüberlegte Tat, eine Verspätung können den Eintritt in ein Labyrinth bedeuten, aus dem fast nicht mehr herauszufinden ist, sie können ebenso gut ins Glück führen wie ins Unglück, sie können Menschen zusammenbringen und andere trennen, und wer in ihre wie immer gearteten Folgen hineingerät, wird oft über die Ursachen rätseln, ohne eine Antwort zu finden.

Diese Geschichte fängt damit an, dass sich jemand beeilen musste.

Es war eine Lehrerin, Natalie Schaub mit Namen, Anfang 30, und sie wollte zu einem Elternabend. Vom 1. Stock des alten Miethauses, das sie bewohnte, war sie schon zur Haustür hinuntergegangen und war dann nochmals umgekehrt, als sie gesehen hatte, dass draußen ein Schneeregen niederging. Oben hatte sie ihre leichte Jacke gegen den warmen, gefütterten Regenmantel eingewechselt, den sie vor wenigen Tagen gekauft hatte, um sich gegen die kommende kältere Jahreszeit zu wappnen. Sie hatte ihn noch nicht zugeknöpft, als sie schwungvoll ins Treppenhaus trat, und blieb mit der Innenseite an einer spitzen Verzierung des metallenen Geländers hängen. Etwas hielt sie zurück, sie hörte das Geräusch von aufreißendem Stoff, stand sofort still und bückte sich, um das Futter vom Geländer zu lösen. Wie dumm, dachte sie, ein Triangel im neuen Mantel, aber wenigstens an der Innenseite, das würde sie nähen können, und wenn sie Glück hatte, fiel es nicht zu sehr auf. Dann sah sie etwas Eigenartiges. Hinter dem herunterhängenden Stofflappen des Futters schaute ein Stück Papier hervor, und als sie danach griff und es hervorzog, erwies es sich als ein Briefumschlag. Das kann ja nicht sein, dachte sie, während sie ihn kurz musterte und im schlecht beleuchteten Treppenhaus eine mit Schreibmaschine getippte Zürcher Adresse darauf las, aber da sie schon zu spät war, versorgte sie ihn in der Manteltasche und beschloss, ihn erst nach dem Elternabend zu öffnen.

Nach dem Abend setzte sie sich mit einem Bergkräutertee an ihren Schreibtisch und machte sich ein paar Notizen zu dem, was besprochen worden war. Die Ansprüche der Eltern hätten unterschiedlicher nicht sein können. Die einen wünschten sich mehr Prüfungen und mehr Noten, die andern beklagten sich über die vielen Hausaufgaben und das geringe Gewicht der kreativen Fächer, wieder andere wollten wissen, warum sie die Kinder so viel in Gruppen arbeiten lasse und ob es richtig sei, dass sie fast keine Schweizer Lieder mehr lernten, während zwei Kopftuchmütter überhaupt nichts sagten und eine Kolumbianerin fragte, ob es Programme gebe, die den Kindern beibrächten, schneller zu sein.

Als sie alles aufgeschrieben und sich vorgenommen hatte, die Frage wegen des langsamen Kindes der Logopädin zu stellen, lehnte sie sich zurück, trank ihren Tee aus und stand dann auf, um zu Bett zu gehen. Da fiel ihr der Brief ein. Sie ging zum Garderobeständer, griff in die Manteltasche, nahm den Brief heraus und legte ihn auf die Tischplatte unter die Lampe. Es war ein unverschlossenes, gefüttertes Couvert, die hintere Lasche war in den Umschlag hineingesteckt, und adressiert war er mit Schreibmaschine an das Kleiderhaus Seidenbaum, Löwenstraße 40, Zürich. Zürich war unterstrichen,



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