Der fernste Ort by Daniel Kehlmann

Der fernste Ort by Daniel Kehlmann

Autor:Daniel Kehlmann [Kehlmann, Daniel]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
veröffentlicht: 2013-04-23T22:00:00+00:00


V

»Ein Verschwundener wird erst nach acht Jahren für tot erklärt. Ich hoffe, du weißt das.«

»Ich bin nicht verschwunden, sondern ertrunken. Die Beweise sind eindeutig.«

»Ganz egal. Ohne Leiche: acht Jahre.«

»Es geht schneller, wenn mein nächster Verwandter unterschreibt.«

»Wer ist das?«

Julian antwortete nicht.

»Ach so.« Paul saß da, zurückgelehnt und doch gerade, er sah Julian starr, ohne zu blinzeln an. »Aber im Ernst, Julian, was soll das?«

»Du weißt, daß man nur ein Leben hat. Jeder weiß das. Es ist so ziemlich das erste, was einem gesagt wird.«

»Und?«

»Ich bekomme noch eines.«

Paul schüttelte den Kopf. »Sogar wenn das stimmen würde, würde es nicht stimmen. Du denkst, du könntest etwas anderes sein. Aber was du auch tust, der junge Mann mit den schlechten Augen, der ein schlechtes Buch über einen vergessenen Barockdenker geschrieben hat und schuld an Mamas Tod ist, bleibst du immer.«

»Wenn ich daran schuld bin«, sagte Julian leise, »dann bist du es auch.«

»Oh, sogar mehr als du.«

»Das scheint dir nicht viel auszumachen!«

»Du solltest allmählich begreifen«, sagte Paul ruhig, »wie albern deine ständigen Fluchtversuche sind. Obwohl es wirklich mutig von dir war, damals. Und dann mußte es dich gerade dorthin verschlagen, wo eine Frau vor den Zug gefallen war!«

»Ich wußte nicht, daß es eine Frau war.«

»Stand in der Zeitung. Es war eigentlich immer das gleiche: Du wolltest etwas anderes, und ich wollte nichts sein. Beides nicht so leicht, wie man denkt.«

»Nichts sein? Programmierst du darum diese Spiele?«

»Aber was bringt dich auf die Idee, daß das etwas Schlechtes ist? Im Moment zum Beispiel arbeiten wir an einem, in dem wir mittels künstlicher Intelligenz eine Raumschiffbesatzung vortäuschen, von der der Spieler langsam, nach und nach, gegen seinen Willen entdeckt, daß sie wesentlich schlechter ist, als er gedacht hat, daß sie seine Befehle falsch ausführt, aus Versehen oder mit Absicht, und eine Weile meint er noch, daß er einen Fehler gemacht hat oder daß wir einen Fehler gemacht haben. Aber dann wird ihm klar, und auf diesen Moment ist das ganze ausgerichtet, daß er von Feinden umgeben ist, daß alle ihn belogen haben, von Anfang an. Daß er nicht gewinnen kann.« Paul grinste. »Und das stimmt. Er kann es wirklich nicht.«

»Und so etwas verkauft sich?«

»Erstaunlich, nicht wahr? Dabei ist es schwerer zu machen, als es klingt. Wir müssen der Maschine das Lügen beibringen, dafür ist sie nicht disponiert.«

Julian verschränkte die Arme. Er wollte nicht über Spiele reden. »Warum bist du hier?«

»Ich bin angerufen worden. Von jemandem, der schlecht Deutsch sprach, ich glaube aus Italien. Ich weiß nicht, woher sie meine Nummer hatten. Jedenfalls sagte er, man wäre allmählich etwas in Sorge, weil du gestern nicht erschienen bist und weil sie heute morgen deine Kleider gefunden haben, deine Brille, sogar ein Handtuch, nur die Schuhe nicht …«

»Nicht die Schuhe?«

»Nein. Und weil niemand wußte, was das zu bedeuten hat …«

»Warum nicht die Schuhe?«

»Weiß ich nicht. Weil also niemand wußte …«

»Hat sich der Rezeptionist an mich erinnert?«

»Offenbar nicht. Weil also niemand …«

»Hat er wirklich vergessen, daß er mich gewarnt hat?« rief Julian. »Kann man sich auf keinen verlassen? Und wer stiehlt einem Ertrunkenen die Schuhe?«

Paul schwieg einen Moment.



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