Der Campus by Dietrich Schwanitz
Autor:Dietrich Schwanitz [Schwanitz, Dietrich]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-10-31T04:00:00+00:00
Um achtzehn Uhr desselben Tages nutzte Martin Sommer die Tatsache, daß Frau Schell zur Toilette gegangen war, zu einem Telefonat. Sie hatten sich im Restaurant Ada neben dem Studentenreisebüro verabredet, und Frau Schell war zu Martins Überraschung nicht alleine erschienen. In ihrer Begleitung war ein bulliger Kerl, den sie als Heribert Kurtz von der Abteilung »Deutsch für Ausländer« vorstellte. Martin wußte nicht, aber er ahnte, daß sich beide unmittelbar vorher den Freuden des Geschlechtsverkehrs überlassen hatten, denn sie trugen denselben leichten Schimmer auf der Haut, jenes Nachglühen, daß die intensive Sinnenfreude eine Zeitlang hinterläßt. Sie hatten sich zu dritt an einen Ecktisch gesetzt, doch als Martin das Gespräch auf Barbara brachte, war Kurtz verschwunden. Und als Frau Schell zur Toilette ging, wollte Martin demonstrieren, daß er als Journalist seine Zeit zu nutzen verstand, und lehnte jetzt in der engen Telefonzelle am Ende des Ganges hinter der Toilette. Er wühlte in seinem Notizbuch und wählte eine Nummer aus Nienburg an der Weser. Genaugenommen hatte er keine Ahnung, wo Nienburg eigentlich lag, außer, daß es an der Weser sein mußte.
»Hallo, hallo, sprech ich mit Frau Clauditz?« Eine Frauenstimme antwortete: »Ja, hier ist Frau Clauditz. Wer ist da bitte?«
»Hier ist Martin Sommer vom JOURNAL.«
»Können Sie etwas lauter sprechen?«
»Martin Sommer hier, vom JOURNAL. Das ist eine Zeitung in Hamburg.«
»Hamburg? Da studiert doch die Barbara.«
»Deshalb rufe ich Sie an, Frau Clauditz. Hat man Sie informiert, daß ihre Tochter in der psychiatrischen Klinik ist?«
Am anderen Ende herrschte Stille.
»Frau Clauditz?« Hatte sie vielleicht einen Herzanfall? »Frau Clauditz!«
»Wie bitte?«
»Ich weiß, das muß ein Schock für Sie sein, wenn Sie es noch nicht wußten. Aber man hat ihre Tochter wegen eines Nervenzusammenbruchs in die psychiatrische Klinik eingeliefert.«
»Ich bin nicht die Mutter, ich bin die Tante. Wo hat man sie eingeliefert?«
»In die psychiatrische Klinik.«
»Ist das nicht die Klapsmühle?«
»Nein, das ist …«
Ein gellender Ruf am andern Ende. »Hertha, Hertha, wo bist du? Barbara ist in der Klapsmühle! Hier ist ein Herr am Telefon, der möchte dich sprechen.« Wieder zu ihm zurück: »Sie kommt gleich, sie zieht sich nur eben die Stiefel aus. Sie war im Garten Unkraut jäten. Hier ist alles ganz matschig. Hat es in Hamburg auch so geregnet?«
Dann eine etwas mildere Stimme: »Hier spricht Hertha Clauditz, was ist mit Barbara?«
»Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und ist in der Psychiatrie in Eppendorf. Hat man Sie denn nicht benachrichtigt?«
»Das hat Barbara sicher nicht gewollt. Sie spricht schon seit Jahren nicht mehr mit mir.«
»Oh.« Martin war schockiert. Das hatte er nicht erwartet. Im Hintergrund erscholl die Stimme der Tante wie ein griechischer Chor. »Es ist deine Tochter, Hertha, denk dran! Deine Tochter!«
»Sei still, Luise, ich kann ja nicht verstehen, was der Herr sagt. Sind Sie der Arzt?«
»Nein, ich bin Journalist. Ich möchte etwas über Barbara schreiben.«
»Über Barbara?«
»Ja. Über ihre Herkunft, ihre Eltern, ihre Jugend.«
»Wir sind rechtschaffene Leute, sie hat alles gehabt, und nun dies!«
»Können Sie mir sagen, was Sie beruflich machen. Sie und Ihr Mann?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Martin überging die Frage.
»Sie haben Barbara doch sicher eine gute Erziehung mitgegeben. Sie hat alles gekriegt, was sie brauchte, stimmt’s?«
»Alles hat das Kind gekriegt, alles.
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