Der Bernsteinring: Roman by Andrea Schacht

Der Bernsteinring: Roman by Andrea Schacht

Autor:Andrea Schacht [Schacht, Andrea]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fiction, Historical
ISBN: 9783641011451
Google: Csm-W8fXWnsC
Amazon: B004OL29KU
Herausgeber: Blanvalet Taschenbuch Verlag
veröffentlicht: 2009-01-25T23:00:00+00:00


20. Kapitel

Plektrudistag

Insgesamt zwölf Jahre lebte Anna nun schon im Stift von Maria im Kapitol. Wieder näherte sich der Plektrudistag, der 10. August des Jahres 1498. Morgen würde er festlich begangen, und morgen würde sie auch Hrabanus wieder sehen.

Der lange helle Sommerabend machte es möglich, noch eine Weile an dem Stundenbuch zu arbeiten, und so hatte sie sich in das verwaiste Skriptorium zurückgezogen. Anna hatte vielfältige Aufgaben als Schreibmeisterin des Stifts zu erledigen und arbeitete viel mit der Priorin zusammen, die sich um die Verwaltung des Stiftsvermögens kümmerte. Auch die Äbtissin verlangte oft ihre Dienste. Viel Zeit für ihr Stundenbuch blieb ihr dabei nicht. Doch Jahr für Jahr waren mehr Blätter gestaltet worden. Und nun waren nur noch wenige Seiten unbeschrieben.

An diesen Abend schwebte der Silbergriffel unschlüssig über dem Pergament. Die erste und zweite Seite der Sext waren inzwischen vollendet, die dritte Seite hatte einen Rahmen, doch der Spruch und das Bild fehlten. Daran hatte Anna weiterarbeiten wollen, aber nun ließ sie den Griffel sinken und schlug das Blatt um. Sie verweilte lange über der letzten Seite, auf der sie aus dem 27. Psalm zitiert hatte: »Zu dir redet mein Herz, nach dir sucht mein Gesicht, nach deinem Antlitz suche ich, o Herr.« Hier gab es ebenfalls eine fertige Miniatur, und es zeigte, wie jedes vierte Bild einer Lage, den astrologischen Herrscher, dem Anna die Stunde gewidmet hatte. An dieser Stelle war es Jupiter, und er trug das narbige Antlitz des großherzigen Stifters, ihrem Wohltäter, dem Ratsherren Hrabanus Valens.

Die Tauben, die auf dem Sims des offenen Fensters saßen und leise gurrende Laute von sich gaben, waren die Einzigen, die sahen, welch unbeschreiblich traurigen Ausdruck das Gesicht der Stiftschreiberin Anna trug.

»Nein!«, sagte sie schließlich und schob das Blatt vorsichtig zwischen die hölzernen Platten, zwischen denen sie es geschützt aufbewahrte. Stattdessen nahm sie ein anderes heraus und betrachtete es.

Die Tauben auf dem Fenstersims waren aufgeflogen, als ein Rabe krächzend den Sitz begehrte. Nun saß er dort, blauschwarz glänzte sein Gefieder, und seine klugen Augen spähten in das Gemach.

»Der Rabe hat mich unter seine Fittiche genommen. So ist es, Vogel. Aber – ich wünschte, er hätte es auf eine andere Art getan.«

Anna stützte den Kopf in die Hände. Und wie an so manchen Abenden fragte sie sich, ob die Entscheidung richtig war, ein derart zurückgezogenes Leben zu führen. Als Rosa noch im Stift weilte, war es heiterer gewesen.

Ein klagendes Miauen weckte die Schreibmeisterin Anna aus ihren Grübeleien. Eine prächtige rote Katze strich um ihre Knie und begehrte, gestreichelt zu werden.

»Komm, Feli. Komm auf meinen Schoß.«

Das Tier sprang hoch und rollte sich mit einem zufriedenen Schnurren auf ihrem Rock zusammen. Feli war zur anerkannten Stiftskatze aufgestiegen und hatte das Mäusefangen in den Vorratsräumen übernommen. Nun ließ sie sich genüsslich von Annas Fingern kraulen, und während sie so gedankenverloren in dem warmen, vibrierenden Fell spielte, formte sich ein Bild in ihrem Geist. Es wurde klarer und klarer, und die Worte, die es begleiten sollten, standen wie in goldenen Lettern vor ihr.

Das rätselhafteste Stifterbild, das je ein Stundenbuch erhalten hatte, entstand mit schnellen Strichen des Silbergriffels auf dem Pergament.



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