Der aufrechte Mann by Davide Longo

Der aufrechte Mann by Davide Longo

Autor:Davide Longo
Die sprache: de
Format: mobi, epub
Tags: Roman
ISBN: 9783644017313
Herausgeber: Rowohlt Digitalbuch
veröffentlicht: 2012-02-22T23:00:00+00:00


«Aber warum?»

«Ich glaube, es ist besser so.»

«Das hast du schon gesagt, aber warum?»

«In ein paar Tagen müssen wir sowieso gehen. Besser, wir behalten das Geld. Es könnte uns nützlich sein.»

«Aber wir haben nichts, wo wir hingehen könnten.»

«Wir haben unser Zuhause.»

«Das ist nicht unser Zuhause. Und dann, wie viele Tage brauchen wir denn, um hinzukommen? Wir haben nicht mal was zum Essen.»

«Ich habe mit den Barberos gesprochen, sie sind bereit, uns etwas von ihren Vorräten zu verkaufen.»

«Wann hast du mit ihnen gesprochen?»

«Nach dem Frühstück.»

«Dann hast du es beschlossen, bevor du mir etwas gesagt hast.»

Leonardo sah auf den Fuß des Waschbeckens, an dem Lucia lehnte. Das Bad war ihm der einzige Ort erschienen, der abgeschieden genug war für diese Diskussion. Bauschan steckte den Kopf bei der Tür herein und sah sie an. Er wusste, dass er nicht hereindurfte.

«Ich bitte dich, vertrau mir, wenn ich dir sage, dass es besser ist, gleich aufzubrechen.»

«Nein, nur wenn du mir sagst, warum du deine Meinung geändert hast.»

Lucia trug einen hellblauen Pullover, unter dem sich die Schultern und die kleinen Brüste abzeichneten. Sie hätte in einem französischen Film auftreten können. Leonardo sah sie lang an. Er fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden, um zu erzählen, was er in der Nacht gesehen hatte, trotzdem tat er es in bruchstückhafter und sprunghafter Weise. Lucia hörte schweigend zu. Je weiter die Erzählung vorrückte, umso bitterer wurde der Zug um ihren Mund, doch ihre Augen wichen den seinen nie aus.

«Du wirst niemals zulassen, dass mir so etwas passiert, nicht wahr?», fragte sie am Schluss.

Eilig packten sie den Koffer und suchten ihre Sachen zusammen. Alberto sagten sie, das Geld sei aus und sie hätten nichts, wovon sie eine weitere Nacht bezahlen sollten; der Junge blieb auf der Pritsche sitzen und verfolgte reglos die Vorbereitungen, dann ließ Leonardo sich heimlich von Lucia einen Geldschein geben und trat außerhalb der Halle zu den Barberos.

Als er ihnen ankündigte, dass sie aufbrechen würden, sagte die Frau, das täte ihr sehr leid, denn sie habe die Kinder lieb gewonnen. Als Grund führte Leonardo den Wunsch an, nach Hause zurückzukehren, in der Hoffnung, dass die Mutter sie dort erwartete, und Herr Barbero erbot sich, ihm etwas zu essen für unterwegs zu verkaufen; er verwendete den Ausdruck «zum Einkaufspreis». Leonardo nahm das Angebot an und folgte ihm ins Innere des Lagers, während die Frau sich von den Kindern verabschieden ging.

«Heute Nacht habe ich eine Vergewaltigung mit angesehen», sagte er, während Herr Barbero unter dem Bett einen Koffer hervorzog, in dem er und seine Frau ein paar Konserven und Kekse aufbewahrten.

Der Mann sah ihn mit dem halben Lächeln dessen an, der nicht verstanden hat.

«Das ist nicht möglich», sagte er, aber etwas Unaufrichtiges verzog ihm den Mund.

«Kommt das oft vor?», fragte Leonardo.

Der Mann senkte den Blick auf die Vorräte, nahm zwei Dosen Thunfisch, ein Päckchen Kichererbsen und legte sie zusammen mit zwei Packungen Grissini auf den Boden.

«Mehr können wir euch nicht geben», sagte er, «den Rest brauchen wir für die Reise nach Frankreich.»

Leonardo sah ihn an. Die schwach pulsierende Ader an seiner Schläfe war das einzige Anzeichen dafür, dass er lebendig war.



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