de profundis by Viktor Jerofejew

de profundis by Viktor Jerofejew

Autor:Viktor Jerofejew
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2012-09-07T09:05:27+00:00


Elternversammlung

Wie sollte die Abiturfeier ablaufen? Welche Vorschläge würde es wohl geben?

Am Morgen öffnete ich voller Angst die Tür zum Garten. In den Schulbänken saßen ehemalige Sowjetmenschen. Mit Nervengas in Jacke und Handtasche. Manche Mamas gaben sich jugendlich. Andere sahen aus wie alte Frauen, aber vielleicht waren das ja Großmütter. Das war nicht ganz klar. Eigentlich hatte ich keine Zeit, in die Schule zu gehen. Unmerklich waren elf Jahre vergangen. Sie betrank sich dermaßen, dass ihr die Linsen aus den Augen sprangen. An den Wänden des Physikraums hingen verschiedene Entdecker physikalischer Gesetze. Dank einiger von ihnen brannten Glühbirnen an der Decke. Über der Tafel hing niemand.

Es gab keine Vorschläge.

In der Klasse war es nicht sehr warm. Sie saßen im Mantel da. Manche mit geschlossenen Augen. Andere mit offenen. Ein paar Männer waren auch gekommen. Sie hatten einen Gesichtsausdruck, als wäre ihnen in der Früh der »Shiguli« geklaut worden.

Genossen!

So einfach war das, wie in alten Zeiten. Niemand reagierte.

Die Lehrerin mit grauer Haarsträhne sah in die unbekannten Gesichter. Wie alle alten Lehrerinnen war sie redselig. Zwischen den Bäumen entdeckte ich zwei Katzen: eine rostrote und eine schwarz-weiße. Sie öffnete den Mund und war nicht mehr zu bremsen. Sie sprach lange und deutlich artikuliert. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte Großpapa ihr beigebracht, richtig mit Messer und Gabel zu essen, indem er ihr dicke Wörterbücher unter die Achseln klemmte. Was waren das für Wörterbücher in Ledereinbänden? Sie musste sie mit ihren Ärmchen an den Körper drücken. Den Worten der Lehrerin war zu entnehmen, dass sie trotz allem Schule und Kinder liebte. Trotz aller Schwierigkeiten. Bei einer der Mamas flossen die Tränen. Sie versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, doch es gelang ihr nicht. Sie griff nach ihrer Handtasche und rannte geräuschvoll aus der Klasse hinaus. Die Leute blickten ihr nach, aber nicht alle. Einige verstanden nicht, was los war. Ein Mann stand auf und ging auf Zehenspitzen hinaus. Der liebe Großpapa, der immer mit dem Fahrrad unterwegs war. Er hatte ganz Europa auf seinem Drahtesel abgeklappert.

Was machen wir denn nun mit der Abiturfeier?

Es wäre gut, ein Elternkomitee zu gründen.

Unsere Abiturfeiern können sehr interessant sein.

Vorletztes Jahr haben wir ein ganzes Schiff gemietet und eine Nachtfahrt auf dem Fluss gemacht. Wirklich unvergesslich. Sie saß auf dem Treppchen vor der Datscha, den Kopf zwischen den Knien, mitten in der Nacht. Sie kotzte alles voll: die Schlappen, die Jacke, die offene Hose. Das mit dem Schiff ist natürlich nicht leicht zu organisieren. Es war einfach zufällig so, dass einer von den Vätern etwas mit der Flussschifffahrt zu tun hatte.

Aber es muss ja nicht unbedingt ein Schiff sein.

Geld müssen wir auf jeden Fall sammeln.

Dafür wäre es gut, ein Elternkomitee zu gründen.

Wer von Ihnen möchte sich daran beteiligen?

Eine Frau in der letzten Bank hob die Hand. Sie hatte einen ganzen Berg zusammengekotzt.

Sehr gut. Wer noch?

Niemand hob mehr die Hand.

Die Lehrerin wartete. Aus der Vogelperspektive ähnelt Prag einer Katze.

Also, wenigstens zwei brauchen wir noch.

Die Mamascha in der letzten Bank überlegte es sich noch mal anders und zog, überraschend für alle, ihre Kandidatur zurück.



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