Das verschollene Bild by Michael Frayn

Das verschollene Bild by Michael Frayn

Autor:Michael Frayn
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-11-09T05:00:00+00:00


Während ich die Anhöhe hinunterfahre, kommt die Frühlingssonne und verschwindet wieder, bescheint unser stilles Tal mit Hoffnung und stürzt es genauso irritierend oft in Verzweiflung, wie meine eigene Stimmung unter den wechselhaften Bedingungen meiner Suche schwankt. Als ich auf unseren Weg einbiege, verschwindet die Sonne wieder, und düster und niedergeschlagen fahre ich weiter. Doch nach der zweiten Kurve hinter den Holunderbüschen taucht sie unser Häuschen in die leuchtenden Farben eines Stundenbuchs. Die Tür ist frühlingsgrün, die Osterglocken, die wir im letzten Herbst gepflanzt haben, sind sonnengelb, die Blüten, die von den Apfelbäumen heruntergefallen sind, schimmern weiß wie das unschuldige Sonnenlicht, und Tildas Tragekörbchen auf dem Stumpf des alten Ahorns ist so blau wie das ferne Meer. Und im Vordergrund – meine dicke Bäuerin, die breitbeinig auf der frisch umgegrabenen braunen Erde steht und sich in gebeugter Haltung dem emblematischen Pflanzen und Säen widmet, den traditionellen Tätigkeiten im April. Als sie das Auto sieht, richtet sie sich auf, streckt den schmerzenden Rücken und streicht sich mit dem erdbraunen Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn, wie Generationen hart arbeitender Frauen es vor ihr getan haben, und lächelt dann, wie nur Kate es kann.

»Viel passiert heute vormittag«, rufe ich beim Aussteigen. Es gibt so viel zu erzählen, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich weiß nur, wenn ich sie so lächeln sehe, daß alle Ängste und Ungewißheiten aus meinem Bericht verschwinden werden und daß alles wieder gut sein wird. Wir beugen uns einander zu, küssen uns auf den gespitzten Mund, wie das Paar auf meinem Bild, in schlichter, erdverbundener Anlehnung an die Vergnügungen der Edelleute.

Das erste, wovon ich ihr erzählen werde, ist das, was zuletzt passiert ist – die nachträgliche Entdeckung, daß Tony Churt mit meiner Hilfe das Finanzamt betrügen will. Und während ich schon den Mund aufmache, denke ich, daß ich Kate womöglich nur erschrecke und die Situation noch komplizierter mache, da mir noch nicht klar ist, wie ich darauf reagieren soll. Ich gehe noch ein Ereignis weiter zurück – zu der Situation, als es mir zum zweitenmal gelang, Laura zu einem Lachanfall zu bringen. Dann denke ich an das lächerliche Mißverständnis, das dafür verantwortlich war – an mein eigenes Gelächter… und stelle dann fest, daß ich mich nicht mehr genau erinnern kann, wie es zu dem Mißverständnis eigentlich gekommen ist, und daß ich auch nicht einfach erklären kann, warum ich mitgelacht habe.

Doch wie üblich kommt Kate sofort zur Sache. »Na, hast du was gesehen?« fragt sie.

»Nichts hab ich gesehen!« rufe ich und merke sofort, wie sehr es mich wieder erleichtert, alles mit ihr teilen zu können. »Überhaupt nichts! Das Bild war gar nicht da! Er hatte es jemandem gezeigt! Einem Kunstexperten! Nur wem? Und was hat er ihm gesagt? Wer kann das gewesen sein? Tony hat nichts gesagt! Vielleicht hat er gelogen… Ich weiß nicht, was er vorhat… Welche Kunstexperten wohnen denn hier in der Gegend?«

Sie lacht Genau wie er. Und sofort schnürt sich mir die Kehle zu, denn sie meint genau das gleiche wie er. Daß es tatsächlich jemanden gibt Jemand, der ihr sofort einfallt.



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