Das starke Geschlecht by Kettenbach Hans Werner

Das starke Geschlecht by Kettenbach Hans Werner

Autor:Kettenbach, Hans Werner [Kettenbach, Hans Werner]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60172-5
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-13T05:00:00+00:00


24

Ich wollte mit diesem Mist, diesem Graus, mit diesem Elend, dem erbärmlichen, nichts zu tun haben. Aber er hielt nicht ein, er ließ mich nicht entkommen, setzte die große Exhibition fort, als erleichtere es sein Herz, wenn er sich vor mir entblößte.

Immerhin schien er mein Zurückschaudern bei seinem Bekenntnis, dass er eingenässt hatte, zu erkennen. Er hob abwehrend die Hand, mit gespreizten Fingern. »Nein, nein, Sie brauchen keine Sorge zu haben! Ich stinke nicht!« Er lächelte. »Olga hat mich wieder proper gemacht.«

Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Er befreite mich von dem Problem, indem er die Hand nach der Wasserflasche ausstreckte, die auf dem Tisch stand. Ich nahm die Flasche und goss ihm ein Glas Mineralwasser ein. Er sagte danke, trank bedächtig, schaute hinaus auf die Bäume und den Himmel darüber, in dem sich ein paar dicke weiße Wolken auftürmten.

»Sie macht das fabelhaft, die gute Olga.« Er lachte. »Notfalls kneift sie dir auf dem Weg zum Klo auch den Schwanz zu, bis sie sicher ist, dass alles in die Schüssel geht und nichts mehr daneben.«

Er schien wieder zu Sauigeleien aufgelegt, wie nach der [225] Attacke, die er bei unserer Schachpartie erlitten hatte. Ich überlegte, ob ich mich kurzerhand verabschieden sollte, aber er ließ mich dazu nicht kommen.

Er sagte: »Wahrscheinlich wundert es Sie, dass ich Ihnen so etwas erzähle. Aber mit wem sonst sollte ich darüber sprechen? Außer mit Olga, ja. Bloß bin ich bei ihr nicht mal sicher, dass sie auch alles versteht, was ich ihr erzähle. Sie nickt, klar, und manchmal lächelt sie sogar, wenn sie glaubt, dass ich darauf warte. Und dass mir das guttut.«

Ich schwieg. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Vielleicht fragen Sie sich, warum ich denn überhaupt über so etwas sprechen muss. Solche ekligen Sachen.« Er schnaufte. »Peinlich, nicht wahr?«

Da er mich bei seiner Frage ansah, fühlte ich mich genötigt zu antworten. Ich sagte: »Ach, wissen Sie…«

Er lächelte. »Schon gut. Sagen wir also, es ist Ihnen nicht peinlich. Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber mir ist es peinlich, das können Sie mir glauben!«

Einen Augenblick lang fürchtete ich, er werde in Tränen ausbrechen. Aber es war wohl nur die merkwürdige Verschleierung seiner Stimme, die mühsame Akzentuierung, mit der er seine Sätze herausbrachte.

Plötzlich wurde mir klar, woran es lag: Es war die Parkinson’sche Krankheit, die ihn in den Klauen hielt. Ich hatte ein paar gelehrte Seiten im Internet besucht, und einige von den Weisheiten über die Krankheit, die ich dort fand, waren hängengeblieben. Die unnatürliche Haltung, das Lächeln, das er nicht aufgeben wollte, gingen vermutlich auf den Rigor zurück, die ungewollte Muskelspannung, unter der solche Patienten leiden.

[226] Nachdem er eine Weile stumm und offenbar mühsam die Lippen bewegt hatte, sagte er: »Ich war mal wer. Vielleicht haben manche Leute keinen großen Respekt vor mir gehabt. Ich war ihnen zu… zu ordinär. Zu primitiv. Zu proletarisch. Aber sie haben sich zumindest vor mir in Acht genommen. Alle haben sich vor mir in Acht genommen. Und das ist auch eine Art von Respekt, finde ich. Oder finden Sie nicht?«

»Nun ja… Kann man sagen, natürlich.



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