Das Salz der Erde by Wittlin Joseph

Das Salz der Erde by Wittlin Joseph

Autor:Wittlin, Joseph [Wittlin, Joseph]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-10-402961-0
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-03-19T16:00:00+00:00


VII. Kapitel

Die österreich-ungarische Monarchie bestand – wie schon die Bezeichnung sagt – aus den im Wiener Reichstag vertretenen Ländern, also aus Österreich und aus Ungarn, d.h. den Ländern der heiligen Stephanskrone.

Die heilige Stephanskrone (A Magyar Szent Korona) ist sehr alt und sehr schwer. Trotzdem muß sie jeder ungarische König einmal im Leben aufsetzen. Mit einem herrlichen Mantel bedeckt, auf weißem Roß, begibt er sich mit der Krone auf den höchsten Hügel der Stadt Ofen, wo er symbolisch ein riesiges Schwert in der Luft schwingt. Das ist der Höhepunkt des Krönungsfestes. Dann schläft die Krone ruhig viele Jahre in der Schatzkammer auf dem Ofener Schloß und wartet auf einen neuen König. Sie liegt ungestört, es sei denn, daß sie jemand raube. Dies geschah schon öfters im Laufe der ungarischen Geschichte. Deshalb vergruben sie Patrioten im Jahre 1846, unweit der Ortschaft Orsova an der Donau. Zehn Jahre lag die Krone in der Erde. Aber das Gold und die kostbaren Edelsteine keimten nicht. Nur das Kreuz am Gipfel des Diadems lockerte sich und ist bis heute zur Seite geneigt – wie das Kreuz Christi, damals, als er unter seiner Last zusammenbrach. Jeder Mensch in der Monarchie, jeder Bettler, dem man in die ausgestreckte Hand 20 Heller wirft, weiß, wie die heilige Stephanskrone aussieht. Denn das Münzhaus, wie übrigens das ganze Finanzwesen, war für beide Länder gemeinsam und brachte in beiden Staaten sowohl die österreichischen wie die ungarischen Münzen in Umlauf. Auf diese Weise trug auch Peter Niewiadomski so manche heilige Stephanskrone in der Tasche, und oft wunderte er sich, weshalb das Kreuz darauf nicht gerade stand.

In Friedenszeiten interessierte man sich im Bezirk Śniatyn wenig für Ungarn, trotz der unmittelbaren Nachbarschaft. Und doch wußte jedes Huzulenkind, daß der Kaiser bei den Magyaren kein Kaiser war, sondern ein König. Warum das so war, darüber dachte – um die Wahrheit zu sagen – im Bezirk Śniatyn niemand nach. Das Problem wurde erst in jenem Augenblick aktuell, als ein Teil, und zwar der beste Teil der kaiserlichen Untertanen, nach Ungarn fahren mußte.

Die Waggons, in denen der Kaiser und König Franz Joseph seine Soldaten (40 Mann) oder seine Tiere (8 Pferde) beförderte, verschloß man auf zweierlei Weise, was von der Art der Passagiere abhing. Wurden Pferde, Vieh, Schweine befördert, schob man eine hölzerne, aus einem Flügel bestehende Tür ohne Fenster vor. Menschen erfreuten sich größerer Freiheit: wer wollte, konnte sogar aus dem Zuge springen; denn statt einer Tür stand dem Tod, den gebrochenen Gliedern oder der Freiheit eine einfache, eiserne Stange im Weg.

Auf diese Stange gestützt stand zusammen mit den Landsleuten Peter Niewiadomski. Es war ein bevorzugter Platz, der einzige im dunklen, schwülen Waggon, wo Sauer- und Stickstoff wechselten und wo man die vorübergleitende Welt sehen konnte. Ein kleines hohes Fensterchen diente nur den Lungen der Tiere, für Menschen hatte es keinen Wert. Es war vergittert wie im Zuchthaus. Diesen guten Platz hatte Peter den ungeschriebenen ethischen Grundsätzen der Mitreisenden zu verdanken. Im Waggon verpflichtete alle eine stillschweigende Abmachung: wer an seiner heimatlichen Gegend vorbeifährt, hat das Recht, vorne zu stehen.



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