Das Mosaik des Todes by Giulio Leoni

Das Mosaik des Todes by Giulio Leoni

Autor:Giulio Leoni [Leoni, Giulio]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-05-19T04:00:00+00:00


12

AM SELBEN TAG AM SPÄTEN NACHMITTAG

DANTE BETRAT das kleine dunkle Schiff der Kirche Quaranta Martiri und ging, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, an der Wand entlang auf den Altar zu. Weiter vorn war neben dem schlichten, von Holzstühlen umringten Steintisch ein Podest aus groben Brettern aufgebaut. Von dieser provisorischen Rednerbühne sprach ein Mann zu einer kleinen Schar von Gläubigen, die sich um ihn drängten.

Es waren nicht viele Leute in der Kirche, vielleicht dreißig Männer und Frauen. Ein paar standen zwischen den Säulen, andere saßen auf den schmucklosen Holzbänken, wieder andere kauerten auf dem Boden, doch alle lauschten gebannt. Ihre verblüfften Mienen, diese einfachen Bauerngesichter, beeindruckten ihn zunächst mehr als der Redner. Sie wirkten wie verzaubert.

»Messer Alighieri! Brecht das Brot der Engel mit uns. Tretet näher!«

Bruno Ammannati hatte seine Rede unterbrochen und sah ihn mit einem Ausdruck der Verzückung an. Dantes Name schien keine besondere Reaktion bei den Versammelten auszulösen. Nur wenige Gläubige hatten ihm einen argwöhnischen Blick zugeworfen, der von dem vertraulichen Ton des Predigers sogleich besänftigt wurde.

Nach diesem kurzen Gruß schien auch Bruno ihn wieder zu vergessen. Er setzte, die leuchtenden Augen zum Himmel gewandt, seine inbrünstige Rede fort. Seinem Ton nach zu urteilen, näherte er sich dem Ende. Trotzdem konnte der Dichter sogleich erkennen, daß er über die drei Zeitalter des menschlichen Lebens auf Erden gesprochen hatte. Um schließlich, dessen war Dante sich sicher, die künftige Ära zu preisen, das dritte Reich des Heiligen Geistes, die Befreiung von den Beschränkungen des Fleisches und der Materie, die Auslöschung des Lasters und der Selbstsucht in einer Gesellschaft der Gleichen, in der die Kirche, erneuert durch den belebenden Einfluß des Heiligen Geistes, am Ende zur Verfechterin von Freiheit und Gerechtigkeit wurde.

Die entrückten Gesichter der Plebejer waren der ideale Nährboden für Wunschträume. Eine weitere Frucht des großen Baums, den Joachim von Fiore gepflanzt hatte, der überschwengliche Mönch, der vor mehr als einhundert Jahren versucht hatte, die Kirche mit seinen Prophezeiungen zu erneuern.

Voller Hingabe fuhr Bruno fort, seine Wortlandschaft mit Heilsbildern auszufüllen. Wie konnte ein kultivierter Meister der Theologie sich zu derart groben Visionen für einfache Gemüter versteigen? Waren es Torheiten dieser Art, die Venieros Interesse geweckt hatten?

Dante, der nur noch mit halbem Ohr zuhörte, hing seinen eigenen Gedanken nach. Doch eine Änderung im Rhythmus der Rede oder im Tonfall der Stimme erregte seine Aufmerksamkeit aufs neue.

Die alte Leier von der Größe des kommenden Zeitalters, die aus unbeschreiblichen Hoffnungen und außergewöhnlichen Erwartungen bestand, hatte einem düstereren Thema Platz gemacht. Gott schien vom Horizont des Theologen verschwenden zu sein und war einer stumpfen, bösartigen Dunkelheit gewichen.

Bruno führte die Gedanken und Träume seiner Zuhörer nicht mehr in eine ferne Zukunft. Statt dessen ging er in die graue Vorzeit der Menschheit zurück. Je weiter er mit seinem Vortrag kam, desto ferner schienen seine Worte den Thesen Joachims zu sein. Der Theologe sprach nun über ein Zeitalter der Engel, die gegen Gott rebelliert hatten, dann der Giganten, die aus den Knochen der Engel erstanden waren und die Erde beherrscht und geknechtet hatten. Über ein Zeitalter der Propheten, die die Sehergabe erhalten hatten und, geblendet von dem, was sie entdeckten, gestorben waren.



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