Das Missverstaendnis by Nemirovsky Irene

Das Missverstaendnis by Nemirovsky Irene

Autor:Nemirovsky, Irene [Nemirovsky, Irene]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
veröffentlicht: 2014-01-04T16:00:00+00:00


15

Als er mit über einer Stunde Verspätung bei Denise eintraf, stand sie am Fenster und weinte heftig. Er erschrak.

»Mein Gott, Denise, was hast du? Ist etwas passiert?«

Sie schüttelte den Kopf, ohne sprechen zu können. Er wollte sie an sich ziehen. Doch sie stieß ihn, starr vor Zorn, mit ausgestreckten Armen zurück.

»Du Egoist … Ich warte hier, außer mir vor Sorge, und stelle mir die fürchterlichsten Dinge vor, einen Unfall, irgendein Unglück … Und da kommen Sie hereinspaziert, ohne sich zu einer Erklärung herabzulassen, ohne ein Wort zu sagen …«

»Sie haben mir bis jetzt noch keine Gelegenheit dazu gegeben«, bemerkte er kühl, mit unvermittelt hart gewordenem Blick.

»Schweigen Sie, lassen Sie mich los, Sie sind gemein, feige, grausam … Sie haben nicht das Recht, hören Sie? – Nicht das Recht, mich so leiden zu lassen …«

Sie atmete mühsam.

Er machte einen Schritt zur Tür.

»Denise, ich glaube, Sie sind verrückt geworden … Leben Sie wohl, ich komme wieder, wenn Sie sich beruhigt haben.«

Da stöhnte sie auf wie ein verletztes Tier.

»Yves, Yves, verlaß mich nicht … geh nicht, Yves …«

Mit ihren wie wahnsinnig zitternden Händen klammerte sie sich an seine Kleider, seine Arme, seinen Hals; er packte sie, umfaßte ihre Brust auf eine Art, die eher einem Gewaltakt glich als einer zärtlichen Handlung. Doch nach und nach beruhigte sie sich; ihr Herz schlug wieder regelmäßiger; sie hob ihm ihr armes kleines Gesicht entgegen, tränenfeucht, erschüttert, totenbleich.

»Yves …«

Dann bat sie ihn leise und schüchtern:

»Sie vergeben mir doch, nicht?«

Er zuckte die Achseln und betrachtete sie mit einem undefinierbaren Ausdruck, in dem sich Mitleid, Zärtlichkeit und Verachtung mischten.

Engumschlungen saßen sie auf dem Sofa, in einer dunklen Ecke; im Kamin lagen glühende Holzscheite, die zuweilen rötlich und silberfarben aufflammten.

Denise hatte die Stirn auf Yves’ Brust gelegt und genoß das köstliche Gefühl der Entspannung, jene fast wollüstige Mattigkeit, die gewöhnlich auf die großen Nervenkrisen von Frauen folgt. Von Zeit zu Zeit erschütterte noch ein Schluchzen ihren Körper, doch allmählich wurde sie wieder völlig ruhig, wie die See nach einem Gewitter; ihr Herz, das eben noch so schwer gewesen war, fühlte sich leicht und weich an; es war, als schmelze ein großer Eisblock im Wasser ihrer salzigen Tränen, die immer noch in ihren Augenwinkeln schimmerten.

Verstohlen betrachtete sie Yves.

Er schwieg, bedrückt, der Blick schwer.

»Sie dürfen das nie, nie mehr tun, Denise«, sagte er schließlich leise.

Noch regte sich ein wenig Groll in Denise’ nicht völlig besänftigter Seele.

»Wo waren Sie die ganze Zeit?« fragte sie in einem fast haßerfüllten Ton. »Warum sind Sie nicht früher gekommen?«

»Ich habe einen Freund getroffen«, erwiderte er und wirkte kalt und distanziert dabei.

Sie wagte nicht zu sagen: Ich glaube Ihnen nicht, doch er bemerkte sehr wohl das kleine bittere Zucken ihrer Lippen. Unmerklich zog er sich zurück, versteifte sich. Eine Art dumpfe Feindseligkeit entstand zwischen ihnen. Sie spürte sie ganz deutlich und wollte sie mit Küssen und Liebkosungen bannen, wie einen Fluch; doch er blieb angespannt sitzen, mit fest geschlossenem Mund und reglosen Händen.

Da flüsterte sie:

»Yves, lieben Sie mich? Sagen Sie mir, daß Sie mich lieben … Sie sind mir so überaus teuer.



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