Das Geheimnis by Ellen Sandberg

Das Geheimnis by Ellen Sandberg

Autor:Ellen Sandberg [Sandberg, Ellen]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
veröffentlicht: 2021-08-24T08:38:23+00:00


Helga

Juli 1975

In einer Woche hatte Marlene Geburtstag. Helga nahm das Seidentuch, das sie für ihre Freundin bemalt hatte, aus dem Rahmen. Es war getrocknet, die Ränder mussten allerdings noch rolliert werden. Es war mühsame Handarbeit, doch das würde sie bis dahin schaffen. Sie legte es über die Lehne des Plüschsessels und ging in die Küche. Dort stand noch der Rekorder und Helga entschloss sich weiterzuerzählen. Sie drücke die Aufnahmetaste.

»Wo war ich stehen geblieben? Ich glaube, bei meiner ersten Zeit in München. Wie ich bei Tante Hetty untergekommen bin, der anderen Schwester meines Vaters. In ihrem schönen Haus in Bogenhausen, das voller Flüchtlinge war.

Tante Hetty war in dieser Zeit mein Fels in der Brandung. Sie war meine Stütze und genau genommen war sie alles, was es an Familie noch gab. Von ihr erfuhr ich, dass mein Vater tot war. An dem Tag, als die Rote Armee Grünberg erreichte, hat er sich die Waffe in den Mund gesteckt und abgedrückt. Aber vorher hat er meiner Mutter eine Kugel durch den Kopf gejagt.«

Helga saß auf der Eckbank und starrte auf den Küchentisch, von dem ein Paar blaue Augen zurückstarrte. Sie schob den Rekorder darüber. Im Moment wollte sie die nicht sehen. Konnte sie ihrer Tochter das zumuten? Vielleicht war das zu drastisch für eine Fünfzehnjährige. Andererseits wollte sie, dass Ulla diese Geschichte kannte, und dazu gehörte, dass ihr Großvater ihre Großmutter erschossen hatte. Abgeknallt wie ein Stück Vieh.

Noch heute war Helga fassungslos. Wie konnte man sich einem Mann derart unterordnen und ihm die Macht über sein Leben geben? Wie konnte man sich erschießen lassen! Wie klein und armselig das war.

»Ich verstehe nicht, wie meine Mutter das zulassen konnte. Wobei ich auch nicht weiß, ob sie sich gewehrt hat oder ihm entkommen wollte. In meiner Vorstellung ist sie allerdings das Lamm, das willig zur Schlachtbank schreitet. Gott sei Dank bin ich anders als sie und das verdanke ich eigentlich ihr. Den unbedingten Willen, unabhängig zu sein. Frei. Auf eigenen Beinen zu stehen. Den hat sie mir mitgegeben, ohne das zu ahnen. Denn wie sie wollte ich nie werden. Man darf sich nicht abhängig machen. Von niemandem. Weder materiell noch emotional. Bewahre dir deine Unabhängigkeit, Ulla. Das ist wichtig.«

Oder erobere sie dir zurück, wenn du sie verloren hast, dachte Helga. Sie zündete sich eine Zigarette an. Der erste Zug war wie immer der beste.

In ihrer Kunst war sie nicht frei. Sie hing an Fäden, wie eine Marionette. Es war ein Paar blauer Augen, das Regie führte. Doch bald würde sie die Fäden kappen.

Und deshalb sollte sie jetzt endlich mit Martin reden. Sie drückte die Stopptaste. Ulla musste warten.

Im Flur warf sie einen Blick in den Spiegel, steckte die Zigarette zwischen die Lippen und bürstete das lange Haar. Dann schlang sie ein buntes Tuch um den Kopf und knotete es im Nacken. Die Schlaghose saß eng am Po. Der Saum war so weit, dass sie damit nicht Rad fahren konnte. Er würde sich in der Kette verheddern. Also entschied sie, zu Fuß ins Dorf zu gehen. Es war ja nicht weit.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.