Claraboia oder Wo das Licht einfaellt by José Saramago

Claraboia oder Wo das Licht einfaellt by José Saramago

Autor:José Saramago [Saramago, José]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3455811086
Google: 6Z1zkgEACAAJ
Herausgeber: Hoffmann und Campe...
veröffentlicht: 2013-04-14T22:00:00+00:00


22

Dank der Vitalität eines Sechsjährigen erholte sich Henrique schnell. Die Krankheit hatte keine bösen Spuren hinterlassen, dafür schien es, als hätte sich sein Wesen verändert. Vielleicht war er empfindlicher geworden, weil sie ihn übertrieben umsorgt hatten. Bei jedem etwas strengeren Wort traten ihm die Tränen in die Augen, und schon weinte er.

Aus dem zappeligen Jungen war ein scheues Kind geworden. In Gegenwart des Vaters wurde er ernst und genauso schweigsam. Er sah ihn mit zärtlichem Blick an, voll stummer Verehrung, liebender Zuneigung. Der Vater verhielt sich nicht liebevoller als zuvor – es gab also keine nennenswerte Erwiderung. Was Henrique jetzt zu ihm hinzog, war genau das, was ihn zuvor abgehalten hatte: sein Schweigen, seine knappen Sätze, sein geistesabwesender Ausdruck. Aus ihm unbekannten Gründen – die er auch nicht verstanden hätte, wären sie ihm bekannt gewesen – hatte sein Vater an seinem Bett gesessen. Sein besorgtes und zugleich reserviertes Gesicht, die feindselige Atmosphäre im Haus, all das, dazu seine durch die Krankheit sensibilisierte Wahrnehmung drängten ihn auf merkwürdige Weise zum Vater hin. In seinem kleinen Hirn hatte sich eine der vielen bislang geschlossenen Türen geöffnet. Ohne dass es ihm bewusst gewesen wäre, tat er einen Schritt zum Erwachsenwerden. Er nahm die Missstimmung in der Familie wahr.

Zwar hatte er vorher schon heftige Szenen zwischen den Eltern erlebt. Aber er hatte sie als gleichgültiger Zuschauer erlebt, wie ein Spiel, das ihn weder aus der Nähe noch aus der Ferne betraf. Das war jetzt anders. Noch unter dem Einfluss der Krankheit, spürte er unwillentlich alles, worin sich der latente Konflikt äußerte. Das Prisma, durch das er seine Eltern sah, hatte sich gedreht, ein wenig nur, doch weit genug, dass er sie jetzt anders zur Kenntnis nahm. Diese Veränderung hätte früher oder später ohnehin stattgefunden – die Krankheit hatte sie nur beschleunigt.

Das Bild seiner Mutter hatte sich für ihn fraglos überhaupt nicht verändert. Doch der Vater erschien ihm nun in anderem Licht. Henrique war sechs Jahre alt – ihm konnte unmöglich bewusst sein, dass die Veränderung in ihm selbst stattgefunden hatte. Folglich musste es der Vater sein, der sich verändert hatte. Doch weder sprach der Vater häufiger mit ihm, noch küsste er ihn öfter als zuvor. Da Henrique die wahre Erklärung nicht kannte, führte er die Veränderung darauf zurück, dass der Vater ihn während seiner Krankheit so liebevoll umsorgt hatte. So gesehen war also alles in Ordnung. Letztlich revanchierte sich Henrique mit seinem Interesse lediglich: nicht für des Vaters Interesses in der Gegenwart, sondern für sein Interesse in der Vergangenheit. Als Anerkennung. Als Dank. Jeder Lebensabschnitt wählt die einfachste, direkteste Erklärung.

Henriques Interesse manifestierte sich bei jeder Gelegenheit. Bei den Mahlzeiten stand sein Stuhl näher zu dem des Vaters als zu dem der Mutter. Wenn Emílio abends seine Papiere ordnete, die Anfragen und Aufträge, die er im Laufe des Tages erhalten hatte, stellte sich der Sohn an den Tisch und sah ihm bei der Arbeit zu. Fiel dem Vater ein Papier herunter – und Henrique wünschte sich das von ganzem Herzen –, dann beeilte er sich,



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