Bevor er es wieder tut by Dunker Kristina

Bevor er es wieder tut by Dunker Kristina

Autor:Dunker, Kristina [Dunker, Kristina]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
veröffentlicht: 2015-01-29T05:00:00+00:00


Im Oktober

22

Kim

»Schaffst du es, noch ein Stück weiterzugehen?«

Kim nickt, während sie mit dem Stuhl gleichzeitig von der Therapeutin wegrutscht, als könne sie durch die räumliche Distanz zur Fragenden der Frage entgehen. Sie rutscht vom Teppich herunter bis auf den Parkettboden, auf dem irgendwas liegt, eine Zeitung, ein Stapel Zeichnungen. Sie kann nicht hinschauen, was sie da gerade zerknittert. Sie ist wie gelähmt, denn das schabende Geräusch des Stuhls auf dem Boden ist das gleiche Geräusch wie das der sich hinter dem Mann schließenden Tür, und sie spürt hier und jetzt dasselbe Gefühl wie damals: in der Falle zu sitzen; sie weiß, sie soll sich erinnern, sie soll in Gedanken in der Vergangenheit sein, mit dem Körper aber hier, in Sicherheit; so geht doch diese Übung, aber sie geht zu schnell; sie läuft aus dem Ruder. Dieselbe aufsteigende Panik wie damals nimmt von ihr Besitz und das soll so sein oder auch wieder nicht; Kim weiß es nicht.

Die Therapeutin ist besorgt, sie beugt sich vor, kommt nur ein Stückchen näher, ändert bloß ihre Sitzhaltung, Beine nicht übereinandergeschlagen, sondern Füße nach vorn, rutscht zu ihr hin, um näher zu sein, um ihr Halt zu geben, aber da ist für Kim zunächst nur ein Fuß, er ist es, den sie sieht, und natürlich, es ist ein ganz anderer Fuß, ein anderer Schuh, ein Damenschuh, es ist nicht seiner, sie ist nicht in dem fremden Haus, sie ist gar nicht in der Stadt, sie ist bei ihrer Therapeutin und in Sicherheit.

Sie ist durcheinander.

»Wir machen das nur, wenn du dir das zutraust.«

Aber sie ist ja schon mittendrin, ohne es gewollt zu haben, ohne zu wissen, wie es passiert ist. Sie hat doch gerade nur erzählt, wie sie ins Ärztehaus gegangen ist, das war das Letzte, fast das Letzte, was sie von jenem Tag sicher weiß und mit einigermaßen Ruhe aussprechen kann. Sie hat die Tür geöffnet und nicht darauf geachtet, dass sie sich nicht direkt hinter ihr schloss und er ihr in den Flur folgen konnte. Indirekt hat sie ihn also hineingelassen, ohne es zu wollen natürlich, ohne zu wissen, was …

»Ich wusste nicht, was passieren würde«, ruft sie.

»Natürlich nicht.« Die Therapeutin scheint nicht erstaunt über diesen Ausbruch, ein wenig nervös gleichwohl.

»Ich wusste es nicht«, wiederholt Kim und die Therapeutin nickt, das könnte noch ein paar Mal so gehen, es wäre okay, wäre tröstlich und hilfreich, wenn es noch zehn Minuten so ginge: Ich-wusste-es-nicht, Bestätigung, Ich-wusste-es-nicht, Bestätigung – aber es ein drittes Mal zu wiederholen, traut Kim sich dann doch nicht; sie tut es nur in Gedanken, sie schließt die Augen und krallt die Hände um die Lehnen. Sie schweigen beide.

»Wir können beim nächsten Mal an diesem Punkt weitermachen. Ich glaube, du brauchst eine Pause«, sagt die Frau, die auch Töchter hat, die möchte, dass so etwas nicht mehr passiert, nicht durch den einen Mann, nicht durch andere. Daher kommt es Kim jedes Mal so vor, als läge eine unausgesprochene Bitte darin, durchzuhalten, sich ganz in die Situation zu begeben und endlich zu reden, damit nicht vielleicht morgen schon wieder ein Mädchen diesem Schicksal ausgeliefert ist.



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