Beim Häuten der Zwiebel (German Edition) by Günter Grass
Autor:Günter Grass [Grass, Günter]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783958290006
Herausgeber: Steidl
veröffentlicht: 2015-05-10T16:00:00+00:00
Wenn auch alle Nebenhandlungen der zuletzt skizzierten Episode verhängt sind, ein Treffen besonderer Art steht überdeutlich im Licht: Sogleich nach meinem definitiven Schulabgang finde ich mich im Wartesaal des Bahnhofs.
Wohin wollte ich? Hatte ich Reisepläne?
Zog es mich etwa spontan in den Süden? Ab und davon, wenn auch illegal in die amerikanische Besatzungszone, wo ich nach einigem Suchen in einem bayerischen Kaff zwischen Altötting und Freilassing meinen Kumpel Joseph zu finden hoffte, um noch einmal knobelnd Gewinn in der Zukunft zu suchen?
Hilflos sehe ich mich im Wartesaal des Göttinger Bahnhofs auf Platzsuche zwischen besetzten Bänken. Über Koffer und Bündel hinweg. Des überfüllten Raumes stickige Luft. Endlich eine Lücke. Neben mir – als hätte ich ihn mir ausgeguckt – das aus meiner Sicht bevorzugte Exemplar in gefärbten Wehrmachtsklamotten: der ewige Obergefreite, kenntlich auch ohne die zwei Winkel am linken Ärmel.
Auf einen wie ihn schien ich abonniert zu sein. Wie auf jenen Obergefreiten, der mich als Hänschenklein aus dem dunklen Wald geführt hatte, konnte man sich auf diesen Typ, der allerdings größer, knorriger und von bulliger Statur war, verlassen. Ich sagte mir: Auf einen, der nie Unteroffizier werden wollte, darf man bauen. Gewitzt, gewieft, verschlagen, hat er immer wieder die Kurve gekriegt. Vormarsch, Stellungskrieg, Nahkampf, Gegenstoß, Rückzug, jede kriegsbedingte Bewegung ist ihm geläufig gewesen. Er findet die Lücke, ist davongekommen, wenn auch beschädigt, auf ihn ist Verlaß.
Mit gestrecktem Holzbein saß er neben mir und rauchte Pfeife. Irgendein undefinierbares Zeug, entfernt dem Tabak verwandt. Er sah aus, als hätte er nicht nur den letzten, sondern nach dem Dreißigjährigen auch den Siebenjährigen Krieg überlebt: ein zeitloser Typ. Die Feldmütze hatte er in den Nacken geschoben. Und etwa so kamen wir ins Gespräch: »Na, Jung, weißt nich wohin, was?«
Das Holzbein sah man nicht, war unterm gefärbten Tuch nur zu erahnen, wurde erst später wichtig. »Na, fahren wir mal kurz nach Hannover, da gibt’s och nen Bahnhof. Vleicht fällt uns da was ein…«
Also stiegen wir in den nächsten Bummelzug und stotterten ein Dutzend und mehr Stationen ab. Nach ziemlichem Gedrängel saßen wir in einem vollbesetzten Nichtraucherabteil, was die Pfeife meines Obergefreiten nicht kümmerte. Sein Kraut machte mächtig Dampf.
Während er noch rauchte, holte er aus dem Brotbeutel einen Brotkanten und ein Stück Wurst, von dem er behauptete, es stamme aus dem Eichsfeld, wo es, wie man ja wisse, die besten Würste gebe.
Mit einem Messer, Typ Fallschirmjägermesser, schnitt er kleinfingerdicke Scheiben ab, mehr für mich als für sich, der von der Pfeife nicht lassen wollte. So fütterte er seinen Kumpel, wie er mich nannte.
Meiner Erinnerung nach kaute ich luftgetrocknete Blutwurst, doch unterschwellig ließe sich auch Mett- oder Fleischwurst nachschmecken. Jedenfalls rauchte er, während ich kaute und aus dem Fenster linksrechts gehügelte Gegend sah und nichts oder nur krauses Zeug dachte.
Als sich eine alte Dame, die uns gegenübersaß und einen Topfhut aus Vorkriegszeiten trug, über den Qualm beschwerte, mit spitzem Finger auf das Nichtraucherschild wies, demonstrativ hüstelte und nicht aufhören wollte mit dem Lamentieren, sogar kreischig nach dem Zugschaffner rief und sogleich die Mitinsassen des Abteils gegen die »unanständige Rauchbelästigung«
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