Ich mußte mich vom Haß befreien. Eine Jüdin emigriert nach Deutschland by Gilbert Jane E

Ich mußte mich vom Haß befreien. Eine Jüdin emigriert nach Deutschland by Gilbert Jane E

Autor:Gilbert, Jane E. [Gilbert, Jane E.]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch, Juden, Deutschland, Autobiographie, Migration, Juden in Deutschland
ISBN: 9783105617083
Herausgeber: FISCHER Digital
veröffentlicht: 2017-06-10T22:00:00+00:00


Im Sommer 1973 flog ich in die USA, um mich noch einige Monate zu erholen. Was war aus meinem Haß geworden? Einerseits war ich noch zu schwach für extreme Gefühle, andererseits diente mein Aufenthalt in der Bundesrepublik dazu, meinen oberflächlichen Umgang mit Deutschen in einem gewissen Grad zu stabilisieren. Deshalb war ich auch seelisch in der Lage, einen deutschen Studenten, Günter, den ich im Flugzeug kennenlernte und der zum ersten Mal nach Amerika reiste, in meine Familie einzuladen. Zuerst blieben wir kurz bei meinem Bruder und meiner Schwägerin in New Jersey, dann fuhr er mit dem Fernbus durch den Süden, und ich flog nach Houston, wohin er einige Wochen später nachkam.

Eines Tages, kurz nach meiner Ankunft, erzählte ich meinen Eltern und Nancy von der Lüge über unsere Familiengeschichte und daß ich sie Günter gegenüber aufrechterhalten mußte. Er studierte ebenfalls an der Freien Universität, und obwohl die FU eine Massenuni ist, ist sie trotzdem «klein». Bisher hatte ich Günter zwar nichts über meine Herkunft gesagt, aber so eine Lüge muß man konsequent durchhalten. «Wieso hast du dieses Märchen verbreitet? Es ist viel exotischer, wenn deine Eltern aus Texas stammen. Daß sie aus Berlin kommen sollen, ist für die Leute in Berlin bestimmt langweilig», sagte Nancy.

Mein Vater schaute mich kopfschüttelnd an und fragte: «Was erwartest du von mir? Soll ich von jetzt an mit deutschem Akzent reden? Warum tust du so was?»

«Warum könnt ihr das nicht verstehen?» fragte ich zurück. «Was würdet ihr tun, wenn ehemalige verfolgte Juden oder deren Kinder euch vorwerfen würden, nicht genug für ihre Rettung getan zu haben?» fragte ich.

«Ich hätte die Wahrheit gesagt», antwortete mein Vater.

«Und sie wäre? Was habt ihr eigentlich getan, um den europäischen Juden zu helfen?»

Alle schwiegen, und die Atmosphäre war äußerst gespannt. «Es herrschte Krieg. Die Zeiten waren damals sehr schwierig», antwortete meine Mutter.

«Wenn man nur zurückblickt, verpaßt man die Zukunft», sagte mein Vater. Obwohl ich nicht weiter fragte, plagte mich immer mehr der Gedanke, daß sie vielleicht wirklich untätig gewesen waren, als unser Volk vernichtet wurde. Wie viele junge Deutsche standen mit derselben Frage vor ihren Eltern und erhielten die gleichen ausweichenden Antworten? Wie fühlten sie sich dabei? Aber ich wollte mich nicht mit den Deutschen meiner Generation vergleichen. Ich hielt sie alle noch für Mittäter.

Als Günter dann kam, lief alles normal. Er und Nancy, beide Kamera-Freaks, verglichen Ausrüstungen und Fotografietechniken. Meine Eltern spielten ihm kein Theater vor. Jedesmal jedoch, wenn Günter und ich vor meiner Mutter miteinander deutsch sprachen, sagte sie: «Sprecht englisch. Er ist nicht nach Amerika gekommen, um deutsch zu reden.» Günter fragte nie, ob wir Juden seien. Er hatte es aber sicherlich gemerkt, denn mein Großvater zum Beispiel sprach mit starkem jiddischen Akzent.



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