Asiatische Absencen by Büscher Wolfgang

Asiatische Absencen by Büscher Wolfgang

Autor:Büscher, Wolfgang
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Belletristik/Gegenwartsliteratur (ab 1945)
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2014-12-28T00:00:00+00:00


Am nächsten Tag stiegen der Doktor und ich die dreihundertdreiundzwanzig Stufen zum Swayambhunath hinauf, zu den blauen Augen des Buddhas über der Stadt, Augen aus zerriebenem Lapislazuli. Achtjährige Mönche verrichteten ihren Dienst neben Nonnen mit grauem Stoppelhaar. Glocken tönten, Gebetsmühlen ratschten, Hunde kämpften um einen Bissen, Affen stahlen blitzschnell, was sie erwischen konnten, und turnten mit der Beute davon. Fromme warfen Reis auf die Schreine der Götter. Reiche im weißen Hemd, mit breiten roten Hosenträgern, erreichten keuchend den hochgelegenen, hochheiligen Stupa.

Der Doktor zog mich durch den Trubel und lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine steinerne Gestalt von der Größe eines Kindes, etwas abseits: eine Darstellung des Gottes Shiva, wie ich vermutete. Schlangen krochen ihm um den Hals, über die Brust, wanden sich um die Gelenke der Hände und Füße, ja sogar durch die Ohrlöcher des göttlichen Tänzers. «Richtig, es ist Shiva», sagte der Doktor, «aber ein ganz besonderer. Shiva als Schamane. Sehen Sie ihn sich genau an.» Eine lange Kette hing ihm um den Hals, wie Indras Kette, aber aus kleinen Menschenköpfen gemacht, nicht aus Früchten, vielleicht war es dieser Anblick, der mir das Bild von den Vogelhirnen eingab.

Der Doktor zeigte auf die Geräte, die der Gott in zweien seiner sechs Hände hielt. «Hier das tantrische Zepter, dort die Doppeltrommel aus Affenschädeln. Und das hier sind Kapala und Kartika – die Menschenschädelschale und das Hackmesser. In diese Schale rufen Schamanen die Dämonen herbei, mit dem Hackmesser werden sie zertrümmert, ihr Blut wird aus der Schale getrunken, um sie ganz zu zerstören, aber auch, um ihre Intelligenz aufzunehmen.» Einen Dämon hatte der Gott unter seinen tanzenden Füßen, eine, wie ich fand, ziemlich menschenähnliche Figur.

Jetzt sah ich den winzigen Buddha über Shivas Kopf. Eine Idee blitzte auf, eine hübsche kleine Theorie, ich hoffte, sie würde den Doktor beeindrucken. «Der Weg der Menschheit, dargestellt in einer Statue, vom Anfang aller Religion, dem Gegenzauber gegen Dämonen und Unheil, bis zur höchsten Vergeistigung – zehntausend Jahre von den stampfenden Füßen des alten Hirtengottes bis zum reglos meditierenden Geist über seinem Scheitel.»

Der Doktor lächelte. «Hübsch gedacht. Vom dummen, abergläubischen Schamanen aus der Kindheit des Menschen hinauf zum weisen Buddha-Jesus. Ich schlage Ihnen einen Pakt vor: Keine Theorien mehr, bis wir auf dem Berg sind.»

«Ich reiße mich zusammen. Keine Theorien am Berg.»



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