Anna Seilerin by Therese Bichsel

Anna Seilerin by Therese Bichsel

Autor:Therese Bichsel [Bichsel, Therese]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-7296-2322-4
Herausgeber: Zytglogge Verlag
veröffentlicht: 2020-04-15T00:00:00+00:00


Witwe

15

Bern, Januar 1338

Er liegt da, die Augen offen, manchmal geschlossen. Wenn sie offen sind, blickt er an die Decke, selten auf sein Gegenüber. Er spricht nicht, ist meist regungslos. Nur in der Nacht hört sie sein Schnarchen, das wie früher durch die Wand zwischen ihren Kammern dringt.

Sonst ist nichts wie früher. Wieso Heinrich? Er zählt fast fünfzig Jahre, ist aber kräftig. Lange Jahre reiste er als Kaufmann durch die Lande, war in Bern Zeuge so vieler Geschäfte. Mitten im Leben stand er. Jetzt liegt er reglos da. Wie ein gefällter Baum. Er isst kaum – nur, was man ihm eingibt. Seine Wangen sind eingefallen. Er atmet, ist noch da – und scheint doch fern.

Walther von Scharnachthal hatte ihn am Tag vor Sankt Vinzenz als Zeugen beigezogen in der Sache seiner Verehelichung mit Elisabeth Frieso. Blieb Heinrich an jenem Morgen länger am Tisch sitzen, schien er müder als sonst? Mag sein. Niemals hätte sie gewagt, ihm den Vorschlag zu machen, nicht hinzugehen. Ein Mann lässt sich in einer solchen Sache nichts sagen von seiner Frau. Nur anerkannte Bürger sind Zeugen bei wichtigen Geschäften. «Wer nicht mehr als Zeuge gefragt wird, ist so gut wie tot in dieser Stadt», sagt ihr Vater.

Sie streicht über Heinrichs Hand. Mag er das? Seine Augen bleiben geschlossen.

An jenem Morgen erhob er sich von der Bank in der Stube, setzte sein Barett auf. Grit eilte aus der Küche herbei und reichte ihm den Mantel. Die Magd diente ihm lange Jahre, bevor sie, Anna, seine Frau wurde. Wie so oft, schien ihr, las Grit in seinem Gesicht. Sah sie etwas, das sie beunruhigte? Eine Schwäche? Selbst wenn es so gewesen wäre – wie hätte sie, die Magd, ihn aufhalten können, wenn seine Frau es nicht konnte?

Seine Hand ist von hervortretenden Adern durchzogen. Pausenlos führte diese Hand die Feder, trug Zahlen ins Rechenbuch ein. Die Finger krümmen sich leicht. Sie schaut in sein Gesicht. Er hat die Augen geöffnet, starrt blicklos an die Decke.

Der Tag vor einer Woche war vorbeigegangen wie alle anderen Tage. Sie hatte die Frühmesse bei den Predigern besucht, hatte gebetet – für das Seelenheil von Hemma und von ihrem Kleinen. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Bitte, Maria – der Herr möge meinem kleinen Engel gnädig sein. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen. Die roten Korallenperlen des Rosenkranzes waren durch ihre Finger geglitten, sie hatte das Kreuz geküsst.

Dann die Hausarbeiten, Nähen, Flicken, Fegen – sie überlässt Grit nicht alle Arbeiten, hilft selbst mit. Sie hatte sich ans Spinnrad gesetzt, das Rad hatte gedreht, die Wollfaser war durch ihre Finger geglitten. Der Winter ist eine gute Zeit zum Spinnen, man ist nicht abgelenkt durch das viele Licht draußen, kann den Gedanken nachhängen, sie gleich mitverspinnen.

Früh wurde es Abend. Heinrich war nicht zurück zur Vesperzeit. Das war nicht außergewöhnlich, nach einer Beurkundung wird oft gefestet, die Fastenzeit ist noch nicht angebrochen.



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