Am Freitag schlief der Rabbi lang by Kemelman Harry

Am Freitag schlief der Rabbi lang by Kemelman Harry

Autor:Kemelman, Harry [Kemelman, Harry]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


13. Kapitel

Zum abendlichen Gottesdienst waren vier- bis fünfmal soviel Menschen erschienen wie gewöhnlich, sehr zur Bestürzung der Damen vom Frauen verein, die Kuchen und Tee für den anschließenden Imbiß im Gemeindesaal vorbereitet hatten.

Der Rabbi war nicht sonderlich erfreut, wenn er an die Ursache für den unerwartet starken Besuch der Synagoge dachte. Er saß auf dem Podium neben der Thorarolle und beschloß verbittert, keinerlei Anspielung auf den Mordfall zu machen. Er tat, als sei er in sein Gebetbuch vertieft, und warf verstohlen finstere Blicke auf Gemeindemitglieder, die noch nie am Freitag abend zum Gottesdienst erschienen waren.

Da Myra Präsidentin des Frauenvereins war, nahmen die Schwarzens stets am Gottesdienst teil, saßen aber sonst immer ziemlich weit hinten, in der sechsten oder siebenten Reihe. Diesmal jedoch setzte sich Ben zwar auf seinen üblichen Platz, während Myra weiter nach vorn in die zweite Reihe ging. Sie ließ sich neben Rabbi Smalls Frau nieder, beugte sich zu ihr, tätschelte ihr die Hand und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Miriam erstarrte — und quälte sich dann ein Lächeln ab.

Der Rabbi beobachtete den kleinen Zwischenfall. Dieser Beweis von Takt rührte ihn, zumal er völlig spontan wirkte. Doch als er darüber nachdachte, begann ihm zu dämmern, was das eigentlich bedeutete. Es war eine beruhigende, tröstliche Geste, eine Kundgebung des Mitgefühls für die Frau eines Verdächtigen. Das bot eine weitere Erklärung für den starken Andrang. Einige mochten wohl in der Hoffnung erschienen sein, er würde über das Verbrechen sprechen, andere aber wollten nur sehen, ob er Anzeichen von Schuld zeigte. Wenn er schwieg und den Fall gar nicht erwähnte, könnte das einen falschen Eindruck erwecken und so ausgelegt werden, als fürchte er sich, darüber zu reden.

In seiner Predigt berührte er das Thema nicht, aber kurz vor Ende des Gottesdienstes sagte er: «Bevor sich die Leidtragenden in der Gemeinde erheben, um den kadisch zu sprechen, möchte ich Ihnen den wahren Sinn des Gebetes ins Gedächtnis rufen.»

Die Gemeindemitglieder strafften sich und beugten sich vor. Jetzt kam es.

«Die Ansicht ist weit verbreitet», fuhr der Rabbi fort, «das Sprechen des kadisch sei eine Pflicht, die der Trauernde dem geliebten Verstorbenen schuldet. Wenn Sie jedoch das Gebet oder die Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite lesen, werden Sie feststellen, daß es weder den Tod erwähnt noch eine Fürbitte für die Seele des Toten enthält, sondern den Glauben an Gott, an Seine Kraft und Herrlichkeit ausdrücklich bestätigt. Der kadisch ist kein Gebet für den Toten, sondern für den Lebenden. Ein Mensch, der kürzlich einen geliebten Angehörigen verloren hat, bekundet hier sein unerschütterliches Gottvertrauen. Trotzdem hält unser Volk an der Auffassung fest, der kadisch sei eine Verpflichtung, die man dem Toten schulde. Nun entspricht es unserer Tradition, daß aus der Gewohnheit ein Gebot wird, und deshalb werde ich den kadisch mit den Trauernden sprechen für eine, die kein Mitglied unserer Gemeinde gewesen ist, die nicht einmal unserem Glauben angehört hat — für einen Menschen, von dem wir wenig wissen, dessen Leben aber durch einen tragischen Unglücksfall unsere Gemeinde berührte...»

Auf dem Heimweg von der Synagoge sprachen der Rabbi und seine Frau kaum.



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