Als die Tauben verschwanden by Oksanen Sofi

Als die Tauben verschwanden by Oksanen Sofi

Autor:Oksanen, Sofi
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-462-30826-6
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch
veröffentlicht: 2014-08-13T16:00:00+00:00


1943, Reval

Generalkommissariat Estland, Reichskommissariat Ostland

In dem Moment, als Juudit in die Roosikrantsi-Straße einbog, trat Roland in einem deutschen Waffenrock aus dem Toreingang zu ihr und lüpfte höflich die Mütze. Juudit versteinerte, überlegte, ob sie fortlaufen solle, ob sie es schaffen würde, die Tür aufzubekommen und ins Haus zu schlüpfen – bis dahin wären es nur etwa zehn Meter. Der starre Blick des Mannes hatte das Dienstmädchen, das die Einkäufe trug, erschreckt, Juudit bemerkte ihre Unruhe.

»Maria, Sie können schon hineingehen«, sagte Juudit.

Das Mädchen verschwand in der Tür, Juudit zwang sich zu einer höflichen Miene und nickte im Vorbeigehen der Nachbarin und dem Leiter des deutschen Militärladens zu. Roland ergriff Juudits Arm und zwang sie, mit ihm zu gehen.

»Machen wir einen Spaziergang«, sagte er.

Sie gingen untergehakt, Rolands Schritt war ruhig, seine Stimme nicht.

»Ich brauche die Wohnung deiner Mutter.«

Juudit schwieg. Durch lautes Schreien würde sie Roland endgültig loswerden und sich nie mehr einzubilden brauchen, dass sie ihn in der Menge sah, sie würde nie mehr vor seinem überraschenden Auftauchen erschrecken oder überlegen müssen, ob Hellmuth irgendwann von ihm erfuhr. Sie gingen mitten in der Menschenmenge, ein Ordnungspolizist stand in Rufweite, Juudit öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus, ihr Blick flog von einem Entgegenkommenden zum nächsten, sie ging die Repliken durch, die sie äußern würde, wenn ihr jemand entgegenkäme, den sie grüßen und vorstellen musste, die möglichen Formulierungen rotierten in ihrem Kopf wie ein Schwarm, aber jeder vorbereitete Satz prallte von Rolands glasigen Augen ab. Er hielt ihren Arm fest umklammert und zwang sie, im Gleichschritt zu gehen, wenn Juudit versuchte, sich zu widersetzen.

»Es gibt weniger Flüchtlingstransporte nach Finnland, weil die Tage kürzer werden. Es herrscht jedoch schreiender Mangel an Wohnungen, für die im Untergrund Lebenden ist es schwierig, eine Unterkunft zu finden, alle haben Angst, überall wird nach Papieren gefragt.«

»Sprich leiser«, flüsterte Juudit.

»Auch du hast Angst. Denkst du schon auf Deutsch?«

»Nein.«

»Die Wohnung in der Valge-Laeva-Straße liegt günstig neben einem Park, der bietet Schutz, und die Bolschewiken haben die Lagergebäude daneben zerstört. Da kommt man leicht hin. Du brauchst die Wohnung nicht, aber die anderen brauchen sie«, sagte Roland. »Hast du übrigens von deinem Bruder gehört? Oder kann dein Teutone nicht mal das herausfinden?«

Wieder öffnete Juudit den Mund und schloss ihn. Hellmuth hatte gesagt, es sei das Beste, abzuwarten, bis der Krieg vorbei wäre. Dann gebe es bessere Chancen, Johans Schicksal aufzuklären. Er hatte sie in den Arm genommen, das Mitgefühl der Berührung hatte Juudit zum Weinen gebracht. Mit Roland wollte Juudit nicht über Johan sprechen, seine Stimme war eisig, es schnürte Juudit die Kehle zu, aber vor Roland würde sie nicht weinen. Sie bogen in die Lühike-Jalg-Straße ein und stiegen die Stufen zum Toompea hinauf. Sie könnte unter dem Geländer hindurch entwischen, die Straße mit dem Kopfsteinpflaster hinunterlaufen, auf der Treppe herrschte Gedränge, Roland würde ihr vielleicht nicht so schnell folgen können, und sie könnte schreien, und die Sache wäre erledigt, aber sie brachte nur heraus: »Auf so was kann ich mich nicht einlassen.«

»Das war keine Frage.«

Roland nahm Juudit die Handtasche aus der fühllosen Hand, durchsuchte sie und nahm die Schlüssel an sich.



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