Alles inklusive by Dörrie Doris

Alles inklusive by Dörrie Doris

Autor:Dörrie, Doris [Dörrie, Doris]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60222-7
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-14T05:00:00+00:00


[144] Das Wunder

Ingrid

Ingrid liegt am Strand und träumt. Apple steht am Bügelbrett und bügelt ihre Bluse, drohend blickt sie auf Ingrid herab, dabei ist sie noch ganz klein, sie hat noch ihr Kindergesicht, sie schimpft, tobt und schreit, ihr Mund öffnet und schließt sich, Ingrid bemüht sich zu verstehen, was sie sagt. Warum nur ist Apple so böse? Ingrid fängt an zu weinen, es zieht ihr die Kehle zusammen, sie schluchzt, verschluckt sich, wacht auf, weiß nicht, wo sie ist. Stockdunkel ist es um sie herum, rabenschwarze Nacht, kein Mond.

Langsam kann sie die Umrisse des Felsens ausmachen, erkennt den Strand, beruhigt sich.

Jeden Tag zieht es Ingrid zu diesem Felsen, weil er das Einzige ist, was sich nicht verändert hat. An ihren Krücken humpelt sie aus dem Hotel, nachdem sie Helmut, den Krankenpfleger aus Berlin, abgeschüttelt hat, der sich an ihre Fersen heftet wie ein Hündchen. Nein, sagt sie, danke schön, ich komme zurecht, ich muss allein sein, ein bisschen denken.

Denken, sagt Helmut und sieht sie besorgt an. Det bringt in den meisten Fällen jar nischt.

Manchmal steht sie bis zu einer Stunde an der Bushaltestelle in der Hitze und brät wie ein Ei in der Pfanne. Zusammen mit spanischen Hausfrauen, Kindermädchen, [145] Altenpflegerinnen aus Südamerika und tätowierten jungen Touristinnen aus Schweden sitzt sie im glühenden Bus, bis sie dann endlich am Meer ist.

Ihre Hüfte schmerzt, sie darf nicht so viel laufen. Apple würde mit ihr schimpfen, sie stellt sich vor, Ingrid sitzt zwei Wochen lang am Pool, treibt ein bisschen Wassergymnastik, trinkt bunte Cocktails, isst Salat und Fisch und kommt erholt und als kleinere Bürde zurück. Stattdessen werden die Schmerzen von Tag zu Tag schlimmer, weil sie alles falsch macht. Nicht in diesem Hotel vergammeln will. Rauswill. An den Strand, zu ihrem Felsen. Jede Bewegung im Sand ist mühsam. Flipflops geben wenig Halt. Wie eine Schnecke kriecht sie über den Holzsteg voran zur ersten Reihe der Strandliegen. Den Vermieter kennt sie schon, Paco aus Peru, sechs Euro am Tag für Liege und Schirm, ein Vermögen.

Mama, würde Apple streng sagen, am Pool im Hotel ist alles umsonst, wofür hab ich dir eine Pauschalreise geschenkt.

Buenos días, señora, ruft Paco. Er trägt eine verschlissene Badehose und stellt sich breitbeinig vor ihre Liege. Sie versucht wie jeden Tag, einen Sondertarif mit ihm auszuhandeln, es ist zwecklos, aber Paco lacht und bringt sie damit zum Lachen. Sie sehnt sich danach zu lachen. Wer hätte gedacht, dass es das ist, was sie im Alter am meisten vermissen würde? Sie ist alt, aber nicht richtig alt, denkt sie. Richtig alt kommt erst noch. Richtig alt fängt mit fünfundsiebzig an. Dagegen ist sie fast noch jung: gerade sechsundsechzig. Ruth Sixtysix nennt sie sich in Gedanken. Ruth ist ihr zweiter Vorname, Route 66 der legendäre Highway quer durch die USA, von Jack Kerouac beschrieben, von Bob Dylan besungen. Kennt auch keine Sau mehr.

[146] Das Meer liegt gleichgültig vor ihr, hinter ihr der brutale Beton von Torremolinos, an den sie sich nicht gewöhnen kann.

Ingrid schließt die Augen, genießt das Orangerot hinter den geschlossenen Lidern.



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