Alle Wege sind offen - die Reise nach Afghanistan 19391940 by Lenos Verlag

Alle Wege sind offen - die Reise nach Afghanistan 19391940 by Lenos Verlag

Autor:Lenos Verlag [Annemarie Schwarzenbach]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783857875571
veröffentlicht: 2014-10-06T04:00:00+00:00


Die Reise nach Ghasni

Vernünftige Leute und gute Freunde warnen mich, raten mir ab: Es ist jetzt nicht die Jahreszeit, die Nächte sind kalt, die Tage unsicher, jeden Augenblick kann Schnee fallen, und die Strasse nach Ghasni ist schlecht und führt durch sehr einsames Gebirge. Sie haben Zeit, Sie sind frei; warten Sie eine freundlichere Gelegenheit ab, um die Stadt der Ghasnawiden zu besuchen. Es gibt dort vielerlei zu sehen, denken Sie nur an die Gräber: das Grab des alten Sultans Subagtagin, das Grab von Machmud-i-Ghasnawi, das Grab eines Sufi-Dichters, und das eines Heiligen. Denken Sie auch an die Stadtmauer, die mehr als eine Meile lang und vom Zahn der Zeit angenagt ist; vergessen Sie nicht, zur Zitadelle hinaufzusteigen, sie liegt im Herzen der Stadt, auf einem runden Hügel, man kann von ihrer stolzen Höhe aus alle Strassen beherrschen und alle Täler sehen, der Ausblick lohnt sich. Und dann der alte Basar: Wir raten Ihnen im Guten, nehmen Sie sich einen ganzen Vormittag, um diesen klassischen und romantischen Basar zu besuchen. Sie werden dort die langhaarigen, schönen Männer der südlichen Stämme sehen, in ihren bunt gestickten Jacken, die jetzt schon selten geworden sind, und Händler aller Rassen, reizende, immer zum Spassen geneigte Knaben; vergessen Sie nicht die Sattelmacher, die Kupferschmiede, die Sänger. Und die Stunde des Sonnenuntergangs! Wann fahren Sie, morgens um vier Uhr?

Nein, antworte ich, versonnen und unbedacht, vielleicht fahre ich heute noch, aber gerade heute – es ist ein herrlicher Tag, nicht wahr? – gibt es so viel zu tun: Gerade heute wurde ich zur Jagd aufgefordert, um zwei Uhr sind die Pferde gesattelt, und wir reiten auf die Höhen über dem Lowgar. Sie wissen, ich liebe den fröhlichen Hufschlag, den weichen Galopp, ich liebe die Jagd im Bachbett, auf steinigen Halden, und den letzten, scharfen Ritt über die weite Grasebene, den Wettlauf mit dem Schatten. Ihr wisst es doch, solcher Versuchung kann ich nicht widerstehen. Ein gesatteltes Pferd, sein Übermut, seine Treue, die gezügelte Lebensfreude!

Warum nicht? O Freiheit, Freiheit! Und ich errate schon die Antwort: Warum nicht? Ein Tag der Jagd gewidmet, ein anderer der Freude, sechs Tage Arbeit, und dann, am nächsten, am siebenten, treten Sie die kleine Reise nach Ghasni an. Und jetzt, noch einige Ratschläge …

Denn solche Reisen, in einem wilden Land, auch wenn die Fahrt von Kabul aus nur vier oder fünf Stunden dauert, verlangen sorgfältige Vorbereitungen. Man muss auf das Ministerium gehen und um Erlaubnis bitten, man muss, wenn man nicht erbärmlich frieren will, nach Ghasni telefonieren (denn das Telefon funktioniert), damit sie dort Holz besorgen, den Ofen anzünden, und es ist ratsam, Vorräte mitzunehmen und Bettzeug. Den Filmapparat nicht vergessen! Die Zahnbürste, ein Handtuch, warme Socken. Und Benzin! Ist der Wagen in Ordnung, zuverlässig?

Ich war nicht auf dem Ministerium. Ich habe mich nicht um den Wagen gekümmert, habe keine Vorräte gekauft, nicht auf die Uhr gesehen. Ich habe nicht einmal Zigaretten – und mein Pass, weiss der Himmel, wo sich mein Pass befindet. Und fahre heute noch nach Ghasni. Welch sträflicher Eigensinn!



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