Adèle by Irene Ruttmann

Adèle by Irene Ruttmann

Autor:Irene Ruttmann [Ruttmann, Irene]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783552057548
Herausgeber: Paul Zsolnay Verlag Wien 2015
veröffentlicht: 2015-07-30T16:00:00+00:00


28. Dezember 1916

Heiligabend ist hier anders. Auch im Frieden ist er nicht so ungeheuer wichtig wie bei uns. Sie sind hier wohl alle katholisch, und die Mitternachtsmesse ist der Höhepunkt. Deshalb wurde die nächtliche Ausgangssperre für die Einwohner aufgehoben. Als wir im Quartier die Kerzen gelöscht hatten, das Gebäck aus den Päckchen aufgegessen war und keiner mehr ein Lied vor sich hinsummte, gingen wir noch mal hinaus und standen in der Nacht herum. Sie war klar, und wenn man ein paar Schritte in Richtung Ort machte, sah man schwarze Gestalten zur Kirche gehen. Bei uns sind eigentlich alle evangelisch. Theoretisch hätte einer, der katholisch ist, auch dahin gehen können oder müssen. Wäre aber ziemlich absurd, wenn da alle zusammen sitzen und feiern die Heilige Nacht und anschließend sind sie wieder Todfeinde. Der König ist in Sachsen allerdings, seit August der Starke König von Polen werden wollte, katholisch. Deshalb haben wir auch die Katholische Hofkirche. Wenn ich an die denke und an die ganze wunderbare Silhouette der Stadt über der Elbe, steigen mir doch noch die Tränen in die Augen.

Was ich nach dem Treffen mit der Tante in der Küche geschrieben habe, dass es keine Freistatt gibt, nirgends, nehme ich zurück. Adèles Haus ist eine Freistatt, jedenfalls für uns. Sie war allein, und ich wunderte mich nicht darüber, ich wollte mich nicht darüber wundern, und schreibe jetzt einfach hin: Wir waren verrückt aufeinander. Ich war verrückt nach ihr, und es sah so aus, als sei sie auch verrückt nach mir. Das klingt gewöhnlich, ist aber die Wahrheit. Warum sie nach mir verlangte, weiß ich nicht. Diese junge Frau mit ihrem Duft und den leichten Bewegungen und dem seidigen Haar wie aus einer anderen Welt begehrte mich wie ich sie. Waren es die schwarzen Haare, die braunen Augen oder der feste Griff von Händen, die zärtlich sein und auch malen können? Es war das Wunder, und ich nahm es hin. A propos malen. Ich hatte noch Zeit gefunden, ein Weihnachtsgeschenk für sie zu malen, nicht auf einem der Tische im Quartier, wo die Kameraden und besonders Bruno mir über die Schulter geschaut hätten. Auf den Knien in der Waffenkammer, wo ich eigentlich gar nicht sein sollte, hatte ich es schnell hingeworfen: »Bleistiftzeichnung eines Hauses in der Champagne im Winter.« Weil die Rückfront des Hauses mit der leeren Bank zu langweilig gewesen wäre, hatte ich den Pavillon samt Strauch als Anschnitt im Vordergrund dazugenommen. Capriccio heißt das. Bellotto, den sie bei uns Canaletto nennen, hat das auch gemacht.

Sie hatte die Küchentür weit geöffnet, sodass die Wärme vom Herd auch den Flur erfüllte.

»Joyeux Noël«, sagte sie strahlend, und das konnte nichts anderes heißen als »Frohe Weihnachten«.

»Avant tout le poulet«, sagte sie, und weiter ging es, geschäftig und zügig:

Gebratene Hühnerschenkel auf die Teller, Apfelscheiben dazugelegt, Baguette in den Korb, mich auf den Stuhl gedrückt und das Glas mit rotem Wein erhoben. Keine Feierlichkeit, keine Bedeutsamkeit, alles rasch, als wären wir in Eile. Das waren wir ja auch, und ich sollte es lieber nicht vergessen. Das Essen schmeckte wie im Märchen.



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