Abteil Nr. 6 by Liksom Rosa

Abteil Nr. 6 by Liksom Rosa

Autor:Liksom, Rosa
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
veröffentlicht: 2013-01-10T00:00:00+00:00


Zuerst verschlangen sich die Schienen zu Strängen, der Zug wurde heftig hin und her geworfen, dann folgte ein quietschendes Bremsen, als würde Glas über eine Metallplatte gezogen, und schließlich hielt der Zug am Bahnhof der sibirischen Hauptstadt Irkutsk: zwei Tage Aufenthalt.

Das ockerfarbene Bahnhofsgebäude mit den weißen Ecken stand düster an seinem alten Platz. Davor betrachtete der Bahnhofsvorsteher regungslos den gerade eingefahrenen Zug. Die junge Frau drehte sich auf die andere Seite, und schon stürzten sich ungeordnete Erinnerungen und Eindrücke auf sie, Menschen, die sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Als sie aufwachte, war sie schweißnass.

Der Mann sah sie mitleidvoll an, und das tat ihr gut.

»Die Seele des anderen ist ein dunkler Abgrund«, sagte er leise. »Aber lassen wir die Seele in Ruhe. Jetzt gehen wir in den Wald. In den Essenswald!«

Die junge Frau zog sich schnell an, der Mann langsam und gewissermaßen würdevoll. Er schlüpfte in eine alte, grünliche Anzugjacke, knöpfte sie fest zu und kämmte sich die Haare dandyhaft nach hinten. Zum Schluss holte er die Schuhe unter dem Bett hervor. Es waren eine Art pelzgefütterte, robuste Springerstiefel mit gekappten Schäften und spitzen Absätzen.

Auf dem verschneiten Bahnsteig erwarteten sie frühjahrshaft milder Frost, lautlose Schneeflocken und ein Hundegreis, der mit dem Schwanz wedelte und einen schweren Knochen im Maul trug.

Die Bahnhofshalle war warm, die Luft darin trocken. In den Ecken trieben sich melancholische Reisende herum, auf den Holzbänken saßen Leute in schweren Winterkleidern, das leise Stimmengewirr der Reisenden drang herüber. An einem Ende der Halle befand sich eine Cafeteria, wo durch ein rundes Fenster tropfenweise winterliches Licht in die vom Samowar mit Dampf erfüllte Luft eindrang.

Durch eine niedrige Seitentür traten sie ins Freie. Vor der Gebäudemauer fanden sie die Händler mitten im Schlamm. Mit einem Winken grüßte der Mann die alten Frauen, steuerte aber auf einen betagten Mann zu, der eine Mütze ohne Schild trug. Sein Verkaufstisch war voller getrockneter Pilze. Der Mann unterhielt sich eine Weile mit dem Alten und reichte ihm schließlich ein in China gefertigtes Ringschlüsselset. Der Alte untersuchte die Schraubenschlüssel lange, bevor er unter seinem Tisch ein paar geräucherte Omul-Fische und eine Kiste mit dem gleichen Baikal-Omul, aber gegrillt, hervorholte.

Wenig später standen der Mann und die junge Frau vor dem Verkaufstisch einer alten Frau mit schwarzem Kopftuch. Hinter ihr qualmte ein fleckiger Grill, in dem sich blütenweiße, schlecht gerupfte tote Hühner drehten. Die Alte hatte lediglich drei Eier zu verkaufen.

Der Mann zählte ihr einen Haufen Ein-, Zwei- und Drei-Kopeken-Münzen in die Hand.

Sie trieben sich noch eine Weile zwischen den Händlern herum, wobei sie ständig die vertraute Aromamischung aus Knoblauch, Wodka und Schweiß in der Nase hatten. Der Mann kaufte in Irkutsk angebauten Tee, Buttermilchpiroggen, Weizenmehlhörnchen und Zuckerkringel, die junge Frau Plätzchen aus Tula, Kekse der Marke Goldenes Etikett und Prjaniki.

Dann stiegen sie die Fußgängerbrücke hinauf. Die unbeschwerte Spätwintersonne tönte den frisch gefallenen Pulverschnee rosa, wodurch ganz Irkutsk aussah wie eine Miniatur aus Marzipan. Die Luft war stechend dünn, der Mann keuchte. Mit schwirrenden Flügeln flatterte ein Sperlingsschwarm über ihre Köpfe hinweg. Lange blieben sie schweigend auf der Stelle stehen.



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