Abschied von Sansibar by Hartmann Lukas

Abschied von Sansibar by Hartmann Lukas

Autor:Hartmann, Lukas [Hartmann, Lukas]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60336-1
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2015-01-11T16:00:00+00:00


[174] 10

Vor kurzem war ich bei der Prinzessin Victoria, und sie sagte mir, dass sie meinen Said in ihren Palast einladen wolle. Allein dies beweist Dir doch, mein Bruder, wie sehr wir in Europa von den königlichen Familien geehrt und geschätzt werden. Sie alle wären glücklich zu erfahren, dass sich Deine Gefühle mir gegenüber besänftigt haben. Sie alle sind erstaunt darüber, dass Du Dich nie erkundigst, was für ein Leben wir in Deutschland führen.

Das Jahr im Beiruter Generalkonsulat, 1894, daran versucht sich der alte Mann auf dem Sofa seines Hotelzimmers zu erinnern. Wie zuverlässig ist das Gedächtnis, wie launisch? Es waren keine bedeutenden Aufgaben, die ihm, dem jungen Militärattaché, zugewiesen wurden, sie nahmen auch bloß einen Teil seiner Arbeitszeit in Anspruch. Er hatte Kontakte mit syrischen Offizieren zu pflegen und Berichte über diese Gespräche zu verfassen, er schätzte die Stärke der osmanischen Armee und Marine ein, er erledigte – ungern – administrative Geschäfte im Zusammenhang mit an- und ablegenden deutschen Schiffen, mit an- und abreisenden Landsleuten. Dies alles war oft langweilig und wurde bald zur Routine. Aber was er draußen, in den Gassen der [175] Vielvölkerstadt, rund um die Moscheen und Kirchen, durch alle Poren in sich aufnahm, das war die Welt der Mutter, der er nun wieder so nah war wie als Kind, denn er wohnte in ihrem gemieteten Haus, zusammen mit den Schwestern. Es kam ihm manchmal vor, als hätte ein Dschinn sie alle vier aus Rudolstadt weggetragen, und da waren sie nun, fünfzehn Jahre älter, in einer anderen Welt, in einem wärmeren Klima, in helleren und größeren Räumen. Sie schauten sich ungläubig an; wie von selbst nahmen sie eingespielte Verhaltensweisen wieder auf und versuchten zugleich, sie abzulegen. Said, als Erwachsener, empfand Zärtlichkeit gegenüber der fragilen und doch so zähen Mutter, aber bisweilen, an Abenden, an denen ihre klagenden Monologe das Essen in die Länge zogen, brach ein Groll gegen ihren Starrsinn in ihm auf, den er allerdings nie offen zeigte.

»Die Bismarcks, der alte und der junge«, behauptete sie, »haben mich aus Deutschland vertrieben. Und niemand«, sie zog das ›ie‹ in die Länge, »niemand im Deutschen Reich hat sich wirklich für meine Belange eingesetzt.«

»Das ist gar nicht wahr, Mama«, hielt ihr Said mit beherrschter Freundlichkeit entgegen. »Erinnere dich doch an all die Leute, die dir helfen wollten.«

»O doch«, widersprach sie, indem sie sich am Tisch gerade aufrichtete. »Warum sonst bin ich denn hier an der syrischen Küste gelandet?« Sie hob die Stimme und brachte mit ihren Zischlauten die Kerzenflamme vor ihr auf dem Tisch zum Flackern. »Habe ich denn nicht alles dafür getan, mich im fremden Land einzuordnen und anzupassen? Habe ich nicht meine Kinder zu guten Deutschen erzogen? Habe ich nicht auch für Deutschland große Opfer gebracht? [176] Ja« – da schüttelte sie heftig den Kopf – »so ist es, niemand hat mich unterstützt! Niemand wird mir je helfen!«

Said beteuerte, er, der deutsche Leutnant, unterstütze sie doch mit voller Überzeugung, irgendwann werde es ihm gelingen, die Phalanx der Unversöhnlichen in ihrer Familie aufzuweichen und den Sultan ihr gegenüber großzügig zu stimmen.



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