Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele by Johann Gottfried Herder

Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele by Johann Gottfried Herder

Autor:Johann Gottfried Herder
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Edition Deutsche Klassik UG (haftungsbeschränkt)


III. Grundsätze, die da zeigen, wie

das Genie und der Charakter eines Menschen

von dem Grade der Stärke und der

Lebhaftigkeit und des Fortgangs

einer und der andern dieser Fähigkeiten

und deren Verhältnisse untereinander abhängt

Mit Scharfsinn ist über diese Frage schon viel gearbeitet. Alle Schriftsteller vom Genie und von den menschlichen Charakteren, unter denen, damit ich Deutsche nicht nenne, Huarte, Addison, Helvétius und soviel andre zum Teil große Namen stehen, haben im einzelnen viel Vortreffliches bemerkt; die Akademie fodert nicht Wiederholung oder Sammlung desselben, sondern erste Grundsätze aus den zwo Hauptquellen. Sie will den Strahl in seine Farben geteilt sehen, ohne zu fragen, wie sich nachher jedes Gefäß in jedem Tageslichte gefärbt zeige.

Wir legen also aus dem Vorigen zuerst voraus, daß, da Erkennen und Empfinden sich im Grunde nicht entgegenstehen, es nur apparent sein müsse, wenn sich die Genies und Charaktere beider Fähigkeiten zu einem Grade trennen. Sie müssen sich einander wieder nähern, und zuletzt das Empfinden doch wieder als Hülle des Erkennens erkannt werden. Um also von der Mannigfaltigkeit dieser Farbenbrechung nicht verwirret zu werden, nehmen wir noch selbst die beiden Fähigkeiten des vermischten Geschöpfs für eins und unterscheiden an ihnen nur Innigkeit und Ausbreitung. Ein Mensch existiert z.E. entweder stark in seinem Ich, an Erkennen und am Empfinden, oder ist weit außer sich verteilet: jenen wollen wir das tiefe, dies das reiche Genie in weitestem Verstande, oder praktisch jenes den starken, dies den schnellen und hellen Charakter nennen.

Ein Mensch mit innigem Empfindungsvermögen fühlt sich in jeden Gegenstand tief hinein und empfindet also Weniges, aber viel. Er hat nur seine ihm ähnliche Situationen, auf denen er aber lange ruhet und seine Seele ihnen einzuverleiben scheinet. Kommt's also zum Erkennen: so erkennet er tief und innig; kommt's zum Handeln, so würkt er stark, aus dem Grunde der Seele. Der Ausdruck folgt beidem als Übergang und Naturgemälde.

Die Natur hat solche Menschen meistens schon von außen durch simple, tiefgeprägte Züge und Glieder bezeichnet. Man siehet kein unstetes Auge, keinen kleinen, fliegenden Blick, nicht verwirrte, halbentworfne Mienen; sondern, was die Bildung sagt: saget sie wohl.

Ein Mensch, der sich nun durch alle Teile und Glieder, Nerven und Muskeln also innig und ganz fühlet, ein völliger, gesunder, in starker Wahrheit alles empfindende Mensch, hat offenbar die Anlage zum weisen und glücklichen Menschen. Nicht nur gegen andringende Übel hat ihn die Natur gewappnet, sondern ihm auch mit seinen gesunden, richtigen Sinnen Summen von Güte und Wahrheit vorgelegt, mit denen er zugleich den Druck erhält, sie wohl anzuwenden. Von welchen Vorurteilen kann er frei sein, da er die Gegenstände wahr und tief siehet und mit jedem Sinn eine Probe vollständiger Empfindungen empfängt, nach deren Ähnlichkeit er sich weiter übe.

Ein Mensch von vollständigen Trieben und Empfindungen wird also nie aus Schwachheit träge, menschenfeindlich und grausam sein können. Er strebt zur Tat mit dem Bewußtsein des Rufs und der Stärke; und warum sollte er also andre mit kleinmütigem Neide, mit List und üppigem Hochmut hintergehen? Er kennet die kleine Triebfedern nicht, weil er nur durch eine große handelt: er sieht nicht einmal auf sich



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