Nachttiger by Yangsze Choo

Nachttiger by Yangsze Choo

Autor:Yangsze Choo
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wunderraum
veröffentlicht: 2019-07-15T12:09:44+00:00


Später, als meine Mutter schlief und mein Stiefvater oben in seinem Zimmer verschwunden war, gingen Shin und ich noch einmal aus dem Haus, um etwas zu essen. Draußen herrschte drückende Hitze. Die meisten Restaurants hatten bereits geschlossen, doch Shin führte mich zu einem Stand an der Straße, wo es hor fun gab, breite Reisnudeln mit Suppe. Wir setzten uns an einen wackligen Klapptisch, der an einer Ecke von einem Ziegel gestützt wurde, neben drei Männer, die an einem Mah-Jongg-Turnier teilnahmen und gerade eine Pause einlegten.

Während Shin an den Tresen ging, um die Bestellung aufzugeben, hörte ich mit halbem Ohr den Männern zu, die über ihre Mah-Jongg-Spielschulden redeten. Meine Mutter musste auch an solchen Turnieren teilgenommen haben; anders war nicht zu erklären, dass sie Spielschulden in Höhe von vierzig Malaya-Dollar hatte. Bei dem Gedanken an das Geld verging mir der Appetit, und als Shin mir eine dampfende Schüssel sar hor fun vor die Nase stellte, stocherte ich lustlos mit meinen Stäbchen darin herum.

Er nahm mir gegenüber Platz und begann, seine Nudeln hinunterzuschlingen. Im Schein der zischenden, von Motten umflatterten Karbidlampe sah er gar nicht mehr wie mein Stiefvater aus, und eine Welle der Erleichterung überkam mich. Ich schob ihm meine volle Schüssel hin.

»Ich muss mit deinem Vater sprechen.«

»Worüber?«

Es schien nicht richtig, so über unsere Eltern zu reden, doch es führte kein Weg daran vorbei. »Er muss meine Mutter in Ruhe lassen. Sie darf nicht noch einmal schwanger werden.«

Shins Gesicht war fahl im strahlend weißen Licht der Karbidlampe. »Das habe ich ihm vorhin, als ich kam, auch schon gesagt.«

»Wird er auf dich hören?«

Er zuckte mit den Schultern. Dieses Gespräch war ihm ebenso peinlich wie mir. »Ich habe ihm gesagt, dass es andere Möglichkeiten gibt.«

»Welche denn? Zu Prostituierten zu gehen oder wie ein Mönch zu leben?« Erbost stach ich mit den Stäbchen auf ein Fischbällchen in Shins Schüssel ein. Mir war egal, was mein Stiefvater tat, solange es ihn dazu brachte, sich von meiner Mutter fernzuhalten.

»Nein. Ich rede von Verhütung.« Er runzelte die Stirn, um seine Verlegenheit zu verbergen. »Aber mach dir keinen Kopf deswegen.«

»Sogar ich weiß, was ein Pariser ist«, erwiderte ich. Der »Schild des Mannes«. Als ginge es darum, in den Kampf zu ziehen. »Darauf lässt er sich bestimmt nicht ein, der alte Mistkerl.«

Das war eigentlich Shins Spruch. Für gewöhnlich vermied ich es, seinen Vater zu beschimpfen. Doch diesmal tat ich es und übertrat damit eine unsichtbare Grenze.

Ich war mir nie ganz sicher, wie Shin zu seinem Vater stand. Meine Mutter traf viele törichte Entscheidungen, und manchmal hätte ich sie deswegen am liebsten geschüttelt, doch ich liebte sie. Ich nahm an, dass es Shin mit seinem Vater wohl ähnlich ging, egal was er tat. Vielleicht war das ja die Bedeutung von Familie: dass man durch Verpflichtungen aneinandergefesselt war, denen man niemals entkommen konnte.

Ich rechnete damit, dass Shin verärgert reagierte, doch stattdessen blickte er mich neugierig an. »Und woher weißt du das?«

Ich wusste es natürlich von den Mädchen aus dem May Flower. Sie hatten gesagt, das Beste seien Pariser oder Kondome, die es seit dem Weltkrieg überall gab.



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