635 Tage im Eis by Lansing Alfred

635 Tage im Eis by Lansing Alfred

Autor:Lansing, Alfred
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2016-11-01T16:00:00+00:00


IV. TEIL

Kapitel 1

Die ersten Minuten waren besonders kritisch – und sie brachten die Männer fast zur Verzweiflung. Die Ruderer gaben ihr Bestes, um im Rhythmus zu bleiben, aber sie waren unbeholfen, aus der Übung und wurden durch ihre eigene Angst behindert. Die Riemen stießen gegen umherschwimmende Eisschollen, Kollisionen waren unvermeidlich. Einige Männer knieten sich in den Bug der Boote und versuchten, die größeren Eisblöcke mit dem Staken wegzuschieben, aber viele dieser Schollen waren schwerer als die Boote selbst.

Die erhöhten Bordwände der James Caird und der Dudley Docker erwiesen sich als zusätzliches Hindernis. Ihre Sitzbänke lagen nun zu niedrig, um richtig rudern zu können, und obwohl die vier Ruderer in jedem Boot zusätzlich auf Vorratskisten saßen, war es noch immer ein schwieriges Unterfangen.

Der Schlitten hinter dem Heck der Dudley Docker blieb immer wieder an Eisschollen hängen, und nach einigen Minuten schnitt Worsley wütend die Verbindungsleine durch.

Aber zu ihrer Überraschung – und beinahe ihrer Not und der mißgünstigen Mächte, die sie zurückzuhalten versuchten, zum Trotz – kamen sie langsam vorwärts. Mit jeder Bootslänge schien das Eis lockerer zu werden. Es war schwer zu sagen, ob das Packeis aufbrach oder ob sie völlig dem Eis entkamen, das Patience Camp umgab. Wie auch immer – im Augenblick war das Glück auf ihrer Seite.

Der wolkenverhangene Himmel schien vor Vögeln nur so zu wimmeln – Tausende von Kaptauben, Seeschwalben, Fulmaren, Weißflügel-, Silber- und Schneesturmvögeln. Die Vögel flogen so dicht, daß ihre Exkremente auf die Boote spritzten und die Ruderer die Köpfe einziehen mußten. Und überall schienen Wale aufzutauchen. Sie kamen an allen Seiten an die Oberfläche, manchmal erschreckend nah – besonders die Schwertwale.

Die James Caird fuhr an der Spitze, mit Shackleton an der Ruderpinne. Soweit es das Eis erlaubte, hielt er einen nordwestlichen Kurs. Als nächster kam Worsley, der die Dudley Docker steuerte, gefolgt von Hudson in der Stancomb Wills. Ihre Stimmen, die im Chor »Zieht … zieht … zieht …« riefen, mischten sich mit den Schreien der Vögel über ihnen und dem Wogen der Eisschollen in den hohen Wellen. Mit jedem Schlag verrichteten die Ruderer ihre Aufgabe rhythmischer.

Nach einer Viertelstunde geriet Patience Camp in den Eismassen achtern außer Sicht. Aber Patience Camp zählte jetzt nicht mehr. Diese rußgeschwärzte Eisscholle, die sie fast vier Monate lang gefangengehalten hatte und von der sie jeden Zentimeter so gut kannten wie ein Sträfling jeden Winkel seiner Zelle, die sie gehaßt, aber für deren Tragfähigkeit sie gebetet hatten, sie gehörte jetzt der Vergangenheit an. Sie waren in den Booten … tatsächlich in den Booten, und das war alles, was zählte. Sie dachten weder an Patience Camp zurück noch eine Stunde voraus. Es gab nur die Gegenwart, und das bedeutete rudern … entkommen … fliehen.

Nach dreißig Minuten erreichten sie ein Gebiet mit Treibeis, und um 14.30 Uhr lag Patience Camp um mehr als eine Meile hinter ihnen. Sie hätten es nicht wiederfinden können, selbst wenn sie gewollt hätten. Ihr Kurs führte sie nahe an einem hohen Eisberg mit abgeflachter Spitze vorbei, der durch die schwere nordwestliche Dünung heftig schaukelte. Die Wellen brachen sich an seinen eisblauen Seiten und jagten die Gischt fast zwanzig Meter hoch in die Luft.



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