Wie in einem Traum: Roman (German Edition) by Ulli Olvedi

Wie in einem Traum: Roman (German Edition) by Ulli Olvedi

Autor:Ulli Olvedi [Olvedi, Ulli]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783426410523
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2015-03-20T16:00:00+00:00


6

Der Monsunregen prasselte mit solcher Gewalt vom düsteren Himmel, dass Maili die Stimme von Ani Wangmo kaum hörte.

Nach einer kurzen Zeit der Besserung war die Nonne plötzlich zusammengebrochen und schwächer denn je. Dennoch bestand sie darauf, nicht krank, sondern nur müde zu sein. Der Amchi vom Kloster in der Stadt war gekommen und hatte Ani Wangmos Puls gefühlt. Das sei ein Fall für den Doktor aus Amerika, hatte er gesagt und kleine braune Kügelchen dagelassen, die Ani Wangmo einnehmen sollte.

»Brauchst du etwas, Ani-la?«, fragte Maili und erhob sich von der Türschwelle. Ihr Rock war nass geworden, doch sie liebte ihren Platz auf der Schwelle zu sehr, als dass sie bereit gewesen wäre, dem Regen zu weichen.

»Komm her, Maili.« Ani Wangmo hatte sich mühsam aufgerichtet.

Maili setzte sich an den Rand des Bettes. Das Gesicht der kranken Nonne war im Laufe der letzten Wochen hager geworden. Doch zugleich hatten sich ihre Züge in einer Weise verändert, die sie für Maili weit weniger hässlich erscheinen ließ als früher.

»Ich möchte dir von meinem anderen Leben erzählen«, sagte Ani Wangmo und streckte sich wieder aus. »Ich möchte alle meine Leben aus ihrem Käfig lassen, damit sie davonfliegen können.«

Maili füllte zwei Becher mit warmem Wasser aus der Thermoskanne. Einen Becher stellte sie neben Ani Wangmo und wischte ihr dann mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

»Ich träumte mir ein schönes Gesicht zurecht und eine zierliche Figur«, begann Ani Wangmo zu erzählen, während Maili sich bequem auf ihrem eigenen Bett niederließ. »Ein junger Mann aus einem entfernteren Dorf verliebte sich in mich, und mir gefiel er auch sehr gut. Er hatte eine aufrechte Haltung wie ein Prinz. Mein Vater war sehr stolz auf seine schöne älteste Tochter, und er wollte mich dem jungen Mann nicht geben. Der sei ein Habenichts, so einer komme nicht in unsere Familie, sagte mein Vater. Doch er konnte uns nicht trennen. Wir trafen uns heimlich. Das war die schönste Zeit in meinem Leben. Immer wieder traf ich ihn, und manchmal vergaß ich fast, dass ich hier im Kloster lebte.

Schließlich lief ich davon und heiratete den Mann, den ich haben wollte. Seine Eltern und Geschwister waren freundliche Leute und nahmen mich liebevoll auf, obwohl ich lediglich einigen Schmuck mitbrachte. Es war solch ein großes Glück. Wir waren arm, aber wir konnten leben, und wir bekamen einen Sohn. Ein so schönes kleines Kind! Auch diese Zeit träumte ich immer und immer wieder.«

Ani Wangmo atmete schnell. Maili sah ein junges Mädchen mit einem Baby an der Brust, und neben ihr stand ein junger Mann, dessen Arm sie umfing. Maili lächelte. Wie oft hatte sie selbst dieses Bild geträumt, früher, als ihre Eltern noch lebten und die Zukunft einfach und ohne jede Bedrohung erschienen war.

»Und dann folgte eine kleine Tochter«, erzählte Ani Wangmo weiter. »Wir lebten so ruhig und ungestört, und die Kinder wuchsen heran. Aber Träume sind ebenso unberechenbar wie das Leben. Mein Mann wurde von einem Steinschlag erfasst und starb an seinen Verletzungen. Da war mein Sohn zwölf Jahre alt und meine Tochter zehn.



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