White Horse by Adams Alex

White Horse by Adams Alex

Autor:Adams, Alex [Adams, Alex]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492958578
Herausgeber: Piper ebooks
veröffentlicht: 2012-10-01T10:39:54+00:00


ZEIT: JETZT

Wenn ich zum Himmel hinaufstarre, kann ich so tun, als sei ich am Strand, als paddelten meine Mutter und Schwester im seichten Wasser umher, als warte ein Becher Eis auf mich, wenn ich müde vom Schwimmen an den Strand zurückkehre. In meiner Fantasie bin ich nicht von zersplitterten Balken und verbogenen Stahlteilen umgeben. Die Elpis brennt nicht, und es steigen keine zähen, nach Treibstoff stinkenden Rauchwolken auf. Der gegen die Betondocks von Piräus geworfene Bug der Fähre sieht nicht aus wie eine Ziehharmonika, und ihr Heck ragt nicht halb aus dem Wasser wie ein gestrandeter Wal, der die Orientierung verloren hat und nun zum Sterben verurteilt ist.

Seevögel kreisen über mir. Ihre Schreie sind Grabgesänge. Für sie bin ich nicht mehr als ein großer Fisch. Ihre Obsidianaugen beobachten mich, suchen nach Zeichen der Schwäche, aber ich werde nicht aufgeben. Ich werde nicht aufgeben.

Und doch, wie schön müsste es sein, einfach loszulassen.

Ich schließe die Augen, nur einen Moment lang, und als ich sie wieder öffne, ist die Sonne hinter die Wolken gewandert, und auch ich habe meine Lage verändert. Die Flut schiebt mich auf die birnenförmige Betonbefestigung der Kaianlagen zu, ehe sie es sich anders überlegt und mich zur Seite zerrt, parallel zum Ufer, in den Weg einer Jacht, die gerade einläuft. Wir stoßen zusammen. Es ist ein kleiner Schubs für das Boot, aber ein heftiger Schlag gegen meine Schulter. Salzige Tränen füllen meine Augen, rollen über meine Wangen und vermischen sich mit dem Meerwasser, das mir ins Gesicht schwappt.

»Amerika!«

Ich strample mit den Füßen, bis ich wieder in Richtung Ufer schwimme. Der Schweizer ist bereits an Land. Lisa ebenfalls. Sie kniet keuchend am Boden und versucht so viel Sauerstoff wie möglich einzusaugen. Aber der Schweizer steht aufrecht da, breitbeinig, die Hände in die Hüften gestemmt, die Lippen zu einem grausamen Lächeln verzogen, das so typisch für ihn ist.

Sie lebt. Ich lebe. Bis hierher haben wir es geschafft.

»Amerika, brauchst du Hilfe?«

Ja, aber auf seine Art von Hilfe kann ich verzichten. Hilfe, die etwas kostet, ist keine echte Hilfe. Also kämpfe ich mich allein zum Ufer, mitten im großen Hafen von Piräus, hinter dem das Land zum Himmel aufsteigt, sein Rückgrat ein verschlungenes Spalier aus Häusern und Straßen. Das hier ist ein zweites Brindisi, mit großen Schiffsleichen, die in den Hafenbecken vor sich hin rosten. Im Lauf der Zeit werden sie untergehen, wenn niemand die abblätternden roten Blasen flickt und das Meerwasser erst einsickert und dann einströmt.

Ich bin erschöpft, und meine Arme schmerzen, als sie gegen das immer zähere Wasser ankämpfen.

»Du schaffst es nicht«, ruft er mir zu.

Mein Kopf ist schwer, meine Arme sind es auch. Mein ganzer Körper sehnt sich danach, einfach im Meer zu versinken. Ein träger Nebel wabert durch meine Gedanken. Ich blinzle, schüttle den Kopf, versuche eine Schneise zu schlagen, aber er lässt sich nicht vertreiben. Das Ufer ist zu weit entfernt. Viel zu weit.

»Vorwärts, Amerika!« Er bückt sich, hebt einen zerschlissenen Rettungsring auf, schwenkt ihn durch die Luft, verkündet seinen Sieg mit diesem behelfsmäßigen Banner.

Wieder ein von Schmerzen begleiteter Zug.



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