Wenn nicht wir, wer dann?: Ein politisches Manifest by Philipp Ruch
Autor:Philipp Ruch [Ruch, Philipp]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Politik & Gesellschaft
ISBN: 9783641167035
Google: G7VpCQAAQBAJ
Herausgeber: Ludwig Buchverlag
veröffentlicht: 2015-11-22T23:00:00+00:00
TEIL II
Nihilismus der Seele
Geistiger Nihilismus
Wirtschaftssysteme brechen zusammen und vergehen. Staaten und Regierungssysteme implodieren und geraten in Vergessenheit. Das Einzige, was von einer Gesellschaft bleibt, ist ihre Kunst und Literatur. Unser Bild etwa von der Weimarer Republik wurde wie von keinem anderen von einem Künstler geprägt: George Grosz. Es wird kaum einen Menschen geben, dem nicht unweigerlich die Stützen der Gesellschaft einfallen. Maler fassen ihre Zeit in Bilder, Schriftsteller in Worte – und Politiker in Taten. Welches Bild wird zukünftigen Menschen einfallen, wenn sie an uns denken? Welchen Plan verfolgt unsere Politik? Haben wir überhaupt den Ehrgeiz, uns in Bilder oder Taten zu überführen? Wollen wir unserer Zeit Worte, Bilder und Aktionen auferlegen? Lassen wir uns von einem Ziel in ikonografische, emotionale oder intellektuelle Ketten legen?
Tatsache scheint mir zu sein: Uns fehlt der Wille, dieses Bild selbst zu schaffen. Wir wissen nicht, welches Bild wir abgeben, weil wir selbst keines von uns haben. Ich fürchte, die Zukunft wird den Nihilismus unserer Zeit deutlicher erkennen. Wir sind überzeugt von der eigenen Wertlosigkeit, von der Sinnlosigkeit und Kontingenz des menschlichen Lebens. Die Rache ist so merkwürdig wie real. Den Nihilismus empfinden wir nicht nur in den Seelen, wir fühlen ihn an der Gegenwart. Das Kulturgefühl der gesamten Epoche kündet von Bedeutungslosigkeit.
Wie ruhig scheint unsere Zeit, verglichen mit den Perserkriegen, dem Sturm auf die Bastille oder der Verkündung von Menschenrechten und Demokratie in Amerika. Kein König, den wir stürzen, kein Unrecht, gegen das wir unser Leben aufs Spiel setzen, kein Ideal, das wir verteidigen können. Wir sind weltgeschichtlich die Zuspätgekommenen. Niemand von uns glaubt, Zeuge einer bedeutsamen Zeit zu sein. Menschen, die an ihre Bedeutung glauben, die sind nichts für die Moderne mit ihrer rücksichtslosen Ökonomie, ihrer beispiellosen Umweltzerstörung und ihren maßlosen Einwohnern. Unser Fortschritt sei es, uns wenigstens als sinnlos anzuerkennen. Welcher Umsturz, welcher Neubeginn kann uns da noch aus unserer Lethargie reißen?
In rituellen Abständen machen uns die Medien mit Krisengeschrei hysterisch. Aber diese Krisen sind schneller verflogen, als man ihnen wirklich begegnen könnte. Zwischen 2001 und 2006 herrschte die Angst vor Terroristen. Als die prophezeiten Anschläge ausblieben, wurde eine endzeitliche Öko- und Finanzkrise prophezeit, zuletzt eine Finanz- und Schuldenkrise. Die Krisengewitter münden in eine Hoffnungskrise, die einen leicht übersehen lässt, dass es tatsächlich gravierende humanitäre Katastrophen gibt. Wir leben in einer medialen Welt, die monatelang über die »Schweinegrippe« mit 16 Toten debattiert, während die »Hungergrippe« Tag für Tag mindestens 50 000 Menschen dahinrafft. Für mich bleibt das unverständlich, und ich werde so lange kämpfen, bis die Tagesschau tagtäglich Bilder aus den Krisenregionen dieser Welt sendet. Dadurch würden wir feststellen, wie gut es uns geht.
Aber das mediale Theater des Abgrunds hinterlässt in erster Linie in jungen Menschen einen bleibenden Eindruck. Die Wirkungen des medialen Trommelfeuers legte ein Mädchen 2006, lange vor der »Finanzkrise«, in einer großen deutschen Wochenzeitung dar. Gefragt danach, wie sie die Zeit empfinde, in der sie lebe, antwortete sie: »Seit ich denken kann, herrscht Krise.« Was sagt es über uns aus, wenn die jungen Menschen des reichsten und mächtigsten Landes
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