von Schirach, Ferdinand by Schuld (5 Zoll)

von Schirach, Ferdinand by Schuld (5 Zoll)

Autor:Schuld (5 Zoll)
Die sprache: deu
Format: azw3
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Schnee

Der alte Mann stand in der Küche und rauchte.

Es war warm an diesem Tag im August, er hatte

die Fenster weit geöffnet. Er sah sich den

Aschenbecher an: nackte Meerjungfrau mit

grünem Fischschwanz, darunter in Schreibschrift

»Willkommen auf der Reeperbahn«. Er wusste

nicht, woher er ihn hatte. Die Farbe des Mädchens

war verblasst, das »R« von »Reeperbahn« war ver-

schwunden. Die Wassertropfen klatschten in die

Metallspüle, langsam und hart. Es beruhigte ihn.

Er würde immer weiter am Fenster stehen und

rauchen und nichts tun.

Vor dem Haus hatte sich das

Spezialeinsatzkommando gesammelt. Die

Polizisten trugen Uniformen, die zu groß aussahen,

schwarze Helme und durchsichtige Schilde. Sie

wurden eingesetzt, wenn es für die anderen zu

schwierig wurde, wenn Waffen und Widerstand

erwartet wurden. Es waren harte Männer mit

einem harten Kodex. Es hatte auch auf ihrer Seite

Tote und Verletzte bei ihren Einsätzen gegeben,

das Adrenalin staute sich in ihnen. Sie hatten ihren

Einsatzbefehl: »Drogenwohnung, Verdächtige

vermutlich bewaffnet, Festnahme.« Sie standen

jetzt lautlos neben den Mülltonnen im Hof, sie

warteten im Treppenhaus und vor der Wohnung,

es war zu heiß unter ihren Helmen und

Sturmmasken. Sie warteten auf das Wort des

Einsatzleiters, jeder von ihnen wollte es jetzt

hören. Irgendwann würde er »Zugriff« rufen, und

dann würden sie das tun, wofür sie ausgebildet

waren.

Der alte Mann am Fenster dachte an Hassan und

seine Freunde. Sie hatten den Schlüssel zu seiner

Wohnung, und wenn sie nachts kamen, machten

sie in der Küche die Päckchen, »strecken« nannten

sie es, zwei Drittel Heroin, ein Drittel Lidocain.

Sie pressten es mit dem Wagenheber zu

viereckigen Klumpen, jeder wog ein Kilogramm.

Hassan zahlte dem alten Mann jeden Monat

1.000 Euro, und er zahlte pünktlich. Natürlich war

es zu viel für die eineinhalb Zimmer im Hinter-

haus, vierter Stock, ein wenig zu dunkel. Aber sie

wollten die Wohnung des alten Mannes, nichts war

besser als »Bunker«, wie sie es nannten. Die

Küche war groß genug, und mehr brauchten sie

nicht. Der alte Mann schlief in der Kammer, und

wenn sie kamen, schaltete er den Fernseher ein,

damit er sie nicht hören musste. Nur kochen

konnte er nicht mehr, überall in der Küche waren

Plastikfolien, Feinwaagen, Spachtel und Kle-

bebandrollen. Das Schlimmste war der weiße

Staub, der alles dünn überzog. Hassan hatte dem

alten Mann das Risiko erklärt, aber es war ihm

egal. Er hatte nichts zu verlieren. Es war ein gutes

Geschäft, und er hatte sowieso nie gekocht. Er zog

an der Zigarette und sah in den Himmel: Keine

Wolke, es würde bis zum Abend noch heißer

werden.

Die Polizisten hörte er erst, als sie die Tür ein-

schlugen. Es ging schnell, und es hatte keinen

Sinn, sich zu wehren. Er wurde zu Boden gerissen,

fiel über den Küchenstuhl und brach sich zwei

Rippen. Dann schrien sie ihn an, er solle sagen, wo

die Araber seien. Weil sie so laut waren, sagte er

nichts. Und weil ihm die Rippen wehtaten. Auch

später beim Ermittlungsrichter würde er

schweigen, er war zu oft im Gefängnis gewesen,

und er wusste, dass es zu früh war, um zu reden,

sie würden ihn jetzt nicht gehen lassen.

Der alte Mann lag auf seinem Bett, Zelle 178,

Haus C der Untersuchungshaftanstalt. Er hörte den

Schlüssel, und er wusste, dass er jetzt etwas zu der

Beamtin sagen musste oder nicken oder den Fuß

bewegen, sie würde sonst nicht gehen. Sie kam

jeden Morgen um 6:15 Uhr, sie nannten das

»Lebendkontrolle«, sie sahen nach, ob einer der

Gefangenen in der Nacht gestorben war oder sich

selbst getötet hatte.



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