Verehrter Fremder by Helke Boettger
Autor:Helke Boettger [Boettger, Helke]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-06-10T22:00:00+00:00
Macht und Ohnmacht von Worten
Die Gaslampe von Johann Wertheim warf gespenstische Schatten an die Wände des Wohnzimmers, wo er am Tisch saß und versuchte, eine freundliche Absage an eine Unbekannte zu verfassen.
„Schreib ihr doch bitte, dass du sie gerne mal sehen willst, bitte“, kam eine flehende Stimme aus der Dunkelheit neben der Tür, die in den Flur führte.
„Nein“, antwortete der Mann ruhig. „Warum sollte ich ihr Hoffnungen machen, wenn ich nicht die Absicht habe, sie näher kennenzulernen?“
„Weil du sie näher kennenlernen möchtest, wenn du sie gesehen hast“, argumentierte der Sohn.
„Das weißt du doch gar nicht. Du kennst sie auch nicht. Außerdem würde es nichts an meiner Entscheidung ändern. Und nun geh wieder ins Bett. Es ist bereits spät.“
„Ich war schon den ganzen Tag im Bett“, widersprach der Junge. „Ich bin nicht müde.“
„Das kommt davon, wenn man ausreißt und mit seinen Freunden zum Bahnhof rennt, so dass man Hausarrest bekommt.“
„Darf ich morgen wenigstens wieder zur Schule?“
„Ja, aber ich begleite dich, damit du keine Dummheiten machst.“
„Musst du nicht arbeiten?“
„Nein, ich habe die Stelle aufgegeben, weil wir in Kürze abreisen. Es gibt zu viel zu tun bis dahin, und das Geld nützt mir dort drüben nicht viel. Lieber spare ich an Frau Brinckmann.“
„Siehst du, es geht doch!“, rief der Junge triumphierend. „Du brauchst sie nicht und wir können hier bleiben.“
„Deine Argumente sind wie eine Katze, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Jetzt sei still und geh endlich schlafen. Ich muss mich konzentrieren.“
„Darf ich wenigstens morgen Liese und Werner wiedersehen, damit ich mich von ihnen verabschieden kann?“
„Vielleicht. Aber du wirst noch genügend Gelegenheit haben, ihnen ‚Auf Wiedersehen‘ zu sagen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Vater.“
Der Junge ging tapsend zurück in sein Zimmer, wo er die Tür, dieses Mal leise, schloss. Doch sie klappte nicht ins Schloss. Er ließ sie offen, um dem Vater beim Schreiben zuzusehen.
Johann gab sich Mühe, seine Worte freundlich, aber doch entschieden zu formulieren. Er schrieb der ihm Unbekannten, dass er ihr für ihre Zeilen dankbar sei und sich über ihre beschriebene Seelenverwandtschaft freue, aber dennoch keine Absichten hege, sie näher kennenzulernen. Er schob es auf die Entfernung, auf seine Beschäftigung und dass er der Liebe schon lange entsagt habe, so dass sie sich keine Hoffnungen machen sollte. Sein Gedicht sei lediglich allgemeiner Natur gewesen und an niemanden Speziellen gerichtet.
Dann unterschrieb er das Ganze und steckte es in einen Briefumschlag, den er in den Flur legte, um ihn am nächsten Tag zur Post zu bringen.
Er hatte das Gefühl, dass aufmerksame Kinderaugen jede seiner Bewegungen verfolgten, und als er zu Christophs Tür blickte, bemerkte er, dass diese einen Spalt weit offenstand, sich aber schnell schloss, als sein Blick darauf fiel.
Er verkniff sich ein Lächeln. Der Junge wollte ihn mit aller Macht mit dieser Unbekannten zusammenbringen, aber das Vorhaben war wahnwitzig. Er machte sich das Sofa zurecht, auf dem er immer schlief, damit der Junge sein eigenes Zimmer hatte, und wäre fast sofort eingeschlafen, wenn er nicht wieder das leise Tapsen von Kinderfüßen in der Wohnung gehört hätte.
Schnell sprang er auf, um den Jungen im letzten Moment dabei zu erwischen, wie er den Brief an sich nehmen wollte.
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