Unter dem Elbsand by Fux Christiane
Autor:Fux, Christiane
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492966764
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2014-05-26T00:00:00+00:00
Damals
Es war der zweite Weihnachtstag, ein Montag. Marlene stand schon seit geraumer Zeit vor dem Haus in der Oberstraße – zum ersten Mal seit der Gartenparty, auf der sie erst so glücklich gewesen war und am Ende so am Boden zerstört. Die Heckenrosen waren längst verblüht. Nur einige, von Reif überzuckerte Hagebutten hingen noch an den Sträuchern. Sie leuchteten unwirklich rot in der vorangeschrittenen Dämmerung. Aus den anderen Häusern der Straße fiel Licht auf den Bürgersteig. Viele Fenster hatten keine Gardinen, sodass sich die prächtigen Kronleuchter, Möbel und Christbäume dem Betrachter wie auf einer Theaterbühne darboten. Das Haus von Max Textor und seiner Frau aber lag weitgehend im Dunklen. Nur aus einem Seitenfenster schien Licht auf den bereiften Rasen.
Sie musste an das traurige Märchen von Hans-Christian Andersen vom Mädchen mit den Streichhölzern denken, das in einer Weihnachtsnacht erfroren war. ›Wenn ich hier noch lange herumstehe, wird mir das auch nicht anders gehen‹, dachte Marlene. Sie gab sich einen Ruck und stieg die Stufen zu der geschnitzten Tür hinauf. Der Klingelknopf fühlte sich eisig unter ihrer Fingerspitze an. Sie holte tief Luft und presste sie energisch darauf. Im Inneren des Hauses ertönte ein melodischer Klingelton. Sie wartete und lauschte, glaubte zu hören, wie sich Schritte näherten. Ganz aufrecht stand sie da, mit klopfendem Herzen, die Hände in den Taschen zu Fäusten geballt.
Die Frau, die ihr die Tür öffnete, war klein und zierlich wie ein Kind. Sie reichte Marlene gerade mal bis zur Brust. Der dunkle, nach innen geschlagene Pony stieß an ein spitz zulaufendes Brillengestell. Hinter den dicken Gläsern wirkten die Augen übergroß.
»Ja bitte?«, sagte die Frau. Sie dehnte das »i« in »bitte« ungewöhnlich lang. Ihre Stimme war überraschend dunkel.
»Ist Doktor Textor zu sprechen? Ich bin … eine Studentin von ihm. Es ist … es ist wirklich wichtig.«
»Tute mir leid. Der Signor und die Dottoressa sind nicht zugägän.« Jetzt war der italienische Akzent unüberhörbar. ›Die Haushälterin‹, dachte Marlene. Max hatte ihr erzählt, dass er eine italienische Haushälterin hatte. Paola hieß sie.
»Wann erwarten Sie sie zurück?
»Sie sind gefahren nach Italia. Zu die Famiglia von die Signora. Komme erst wieder nächste Jahre.«
»Ach.« Marlene hatte sich so darauf konzentriert, all ihren Mut für die Begegnung zusammenzunehmen, dass ihr gar nicht in den Sinn gekommen war, dass er nicht da sein könnte.
»Nächstes Jahr«, echote sie.
Die kleine Frau musterte sie. »Si. Möchte Sie vielleicht eine Nachricht hinterlassen?«
Marlene zögerte. Die Frau vor ihr überkreuzte fröstelnd die Arme vor der Brust und betrachtete sie.
»Komme Sie herein, Signorina. Sie sehe schon aus wie eine Eiszapfe.«
Sie führte sie in die Küche und bedeutete ihr, am großen Küchentisch Platz zu nehmen.
»Es macht Ihnen nichtse aus, offe ich. Aber hier es iste warme. Die Reste von die Hause heize ich nicht, wenn die Herrschaften sind fort.«
»Es ist sehr gemütlich hier«, sagte Marlene leise.
»Ich mache Ihnen eine schöne Cappuccino.«
Die Haushälterin hantierte an der Espressomaschine. Sie schien ein ähnliches Modell zu sein wie jenes, das Marlene aus Max’ Büro kannte. Auch die weiße, dickwandige Tasse, die die Haushälterin schließlich vor ihr auf den Tisch stellte, sah genauso aus wie die, die Max ihr immer gereicht hatte.
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