Unentschieden - Roman by dtv

Unentschieden - Roman by dtv

Autor:dtv
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Herausgeber: dtv
veröffentlicht: 2012-12-31T16:00:00+00:00


Fünf

Endlich löst sich der Stau und wir verlassen die Brücke. Ben hat Ralf Merk mitgeteilt, dass wir uns etwas verspäten werden.

Wäre es ein anderer Termin, hätte mich diese Unpünktlichkeit unruhiger gemacht. Ich komme meist zu früh, eine anstrengende Eigenschaft, vor allem für mich selbst.

Michel hat sich immer darüber lustig gemacht, während ich seine Unpünktlichkeit nicht ertragen konnte. Bei gemeinsamen Verabredungen stand ich eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit fertig im Hausflur, während Michel erst anfing, sich umzuziehen.

Der Unterschied zwischen unpünktlichen und pünktlichen Menschen ist ihre Abstraktionsfähigkeit. Pünktliche Menschen wissen, dass sie eine Strecke Weg einplanen müssen, um zum Ort einer Verabredung zu gelangen. Also setzen sie für diesen Weg ein zusätzliches Zeitfenster an. Unpünktliche Menschen ziehen es erst zum verabredeten Zeitpunkt überhaupt in Erwägung, sich auf den Weg zu machen.

Manchmal glaube ich, dass es diese Details sind, die eine Liebe funktionieren lassen oder nicht. Vielleicht geht es gar nicht um Seelenverwandtschaft oder gleiche Visionen.

Bei dieser Radiosendung lege ich jedoch keinen Wert darauf, pünktlich zu sein. Nahezu alle Mittel wären mir recht, sie zu verhindern. Kurz vor dem Rundfunkparkplatz klingelt mein Telefon.

»Hallo, Iris«, sagt Verena.

»Was gibt’s diesmal für ein Problem?« Es ist durchaus möglich, dass ich die Ungeduld in meiner Stimme nicht gut kaschieren kann.

»Nein, nein, kein Problem«, sagt Verena, die mich mit ihrem Alles-easy-Mantra wahnsinnig macht. Aber vielleicht bewundere ich auch ihr dreistes Konzept, jeden Sachverhalt aus der Konfliktzone zu holen und dabei dem Gesprächsgegenüber zu vermitteln, dass die vorliegenden Probleme nicht nur locker zu bewältigen wären, sondern eigentlich gar nicht existieren. Denn das ist es ja, was Verena einem immer beteuert: Für sie gibt es schlichtweg keine Probleme. Wenn überhaupt, dann haben andere welche. Da ist es umso erstaunlicher, dass sie mir an diesem Vormittag kontinuierlich welche gemacht hat. Nun erwarte ich gespannt, mit welchem Thema sie mich zum dritten Mal an diesem Vormittag belästigt.

»Michel wollte vor seinem nächsten Kick-Off-Meeting mit dir noch mal sprechen. Ich stelle durch.«

Ehe ich noch etwas erwidern kann, knackt es in der Leitung und kurz danach ist Michel dran.

»Na, was gab‘s denn für Stress?«, fragt Michel mit seiner aufgesetzt souveränen Kapitänsstimme, die ausdrücken soll: Jetzt, wo er wieder an Bord ist, lässt sich jede stürmische See bezwingen. In dieser Frage schwingt immer mit, dass ich irgendeine Unruhe in Laras Leben gebracht habe, die er nun in seiner unnachahmlichen Ausgeglichenheit wieder korrigieren muss. »Nur die Ruhe!« ist Michels Lieblingssatz, den er vor allem in Situationen anwendet, in denen er überhaupt nicht weiß, worum es geht. Darüber rege ich mich dann auf und werde tatsächlich unruhig, weshalb er spätestens dann mit seinem Satz ins Schwarze trifft. Plötzlich wird mir klar, dass er mit »Nur die Ruhe!« sprachlich perfekt zu Verena passt. Aber diese verbale Seelenverwandtschaft scheint beiden noch nicht aufgefallen zu sein.

Ich ärgere mich sofort über Michels Frage und vergesse dabei, dass ich eigentlich vor Ben einen professionellen Diskretionszaun um mein Privatleben ziehen wollte. So berichte ich Michel vom vergessenen Billy. Allerdings lege ich in meiner Schilderung Wert darauf, dass Verenas Problemlösungskompetenz nicht die beste ist.



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