Strafe: Stories (German Edition) by Ferdinand von Schirach

Strafe: Stories (German Edition) by Ferdinand von Schirach

Autor:Ferdinand von Schirach [Schirach, Ferdinand von]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand Literaturverlag
veröffentlicht: 2018-03-04T23:00:00+00:00


Stinkefisch

In seinem Stadtteil brachten Eltern ihre Kinder nicht zur Schule. Ein paar Kilometer weiter, im Westen der Stadt, war es anders. Tom hatte es einmal gesehen. Dort hoben die Eltern die Schulranzen aus den Autos, sie küssten ihre Kinder und begleiteten sie bis zum Schultor. Die Eltern sahen sich ähnlich und die Kinder sahen sich auch ähnlich.

Aber hier, in seinem Viertel, lebten Menschen aus 160 Nationen. Es gab andere Regeln und die Kindheit war kürzer.

Sie trafen sich vor der Bäckerei, wie jeden Morgen. Toms Freund erzählte von einem Mädchen. Es sei nicht so einfach, man könne viel falsch machen, dann würden die Mädchen wegrennen und blöde Sachen über einen erzählen, sagte der Freund. Tom nickte, aber es interessierte ihn nicht. Er hatte im Supermarkt Zigaretten stehlen sollen, die anderen hatten draußen gewartet. Er hatte es nicht gekonnt.

Sie gingen den gleichen Weg wie immer, Tom und sein Freund und die anderen. Sie sprachen über die Mutprobe und waren ernst und leise. Tom hatte Angst.

Sie nannten den Mann Stinkefisch. An anderen Tagen wechselten sie vor seinem Haus die Straßenseite. Er saß dort immer auf einem Baststuhl unter dem Vordach. Auch bei Regen und Schnee saß er dort. Im letzten Krieg hatte eine Bombe Vorderhaus und Seitenhäuser zerstört, nur der hintere Teil des Gebäudes stand noch. Vor dem Haus wuchs Unkraut, Autoreifen lagen dort, verschimmelte Bretter, eine Spitzhacke ohne Stiel, ein aufgebrochener Sicherungskasten. Die Wände des Hauses schimmelten, im Souterrain waren die Fenster zerbrochen. Und dann war da noch der Geruch nach Fischmehl, verbrannter Milch und Benzin. An heißen Tagen stank es bis zur Schule. Es gab viele Geschichten über Stinkefisch. In den meisten Ländern werde er wegen Mordes gesucht, hieß es. Er sei gesehen worden, wie er im Fluss angele und lebenden Fischen die Köpfe abbeiße, in seinem Keller koche er Milch für die Ratten der Stadt. Manche sagten, er habe einen Schlüssel für die Schule, er gehe dort nachts durch die Gänge und lecke an den Metallspinden der Schüler.

Tom hatte den ganzen Weg über gehofft, Stinkefisch sei heute nicht da. Aber er war da, wie immer. Stinkefisch trug eine schwarze Sonnenbrille, seine Jacke hatte Löcher, seine Hose war schmutzig. Aber seine Schuhe glänzten, sie sahen aus wie sehr gute Schuhe, sie passten nicht zu dem Mann und sie passten nicht zu dem Gestank.

Sie blieben vor dem Grundstück stehen. Tom bettelte. »Ich kann es nochmals mit den Zigaretten versuchen, ich kann ganze Stangen mitbringen, diesmal schaffe ich es.« Er hatte die Sätze in seinem Kopf wieder und wieder gesagt, trotzdem klangen sie jetzt nicht so gut, wie er es sich vorgestellt hatte. Die anderen lehnten ab. »Zu spät«, sagten sie. Er müsse jetzt zu Stinkefisch gehen, mindestens fünf Schritte bis hinter den Zaun, und dort müsse er stehen bleiben und laut »Stinkefisch« brüllen. Oder aber er sei ein Feigling und jeder dürfe ihn ab heute so nennen.

Tom gab seinen Schulranzen den anderen. »Sie werden die Sachen meiner Mutter geben, wenn Stinkefisch mich tötet«, dachte er. Er ging durch das offene Gartentor und zählte die Schritte in Richtung des Hauses.



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