Sozialstaats-Dämmerung (German Edition) by Jürgen Borchert

Sozialstaats-Dämmerung (German Edition) by Jürgen Borchert

Autor:Jürgen Borchert [Borchert, Jürgen]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: E-Books der Verlagsgruppe Random House GmbH


Wie Solidarität ausgerechnet durch Solidarsysteme verhindert wird

Bei der auch als »Parafiskus« bezeichneten Sozialversicherung sieht es nicht nur nicht besser, sondern sogar noch schlimmer aus als beim Fiskus. Sie gilt als das Herzstück des Sozialstaats, und ihre Einzelsysteme Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung werden als »Solidarsysteme« bezeichnet. Unter den vier Quellen der Staatsfinanzierung – direkte und indirekte Steuern, Sozialbeiträge und öffentliche Kreditaufnahme – ist sie die mit Abstand größte. Im krassen Gegensatz zu ihrer Bezeichnung als »Solidarsysteme« steht indes ihre Verteilungswirkung. Denn die rund 400 Milliarden Euro an Beiträgen, die sie pro Jahr (2010) umsetzt, werden nicht etwa wie bei der Einkommensteuer nach einem progressiven, sondern wie eine »Flat Tax« nach einem linear-proportionalen Tarif auf Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit erhoben. Dabei sorgen Beitragsbemessungsgrenzen, die in Ost und West sowie bei den einzelnen Sparten unterschiedlich sind, für einen regressiven Belastungsverlauf. Ausgerechnet bei den Lohn- und Gehaltsgrenzen, bei denen im Einkommensteuerrecht ausweislich des Erreichens der Grenze des tariflichen Spitzensteuersatzes die höchste Leistungsfähigkeit beginnt, endet in den Sozialversicherungen die Solidarverantwortung.

Die Grenze des Spitzensteuersatzes ist derzeit bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 52 882 Euro erreicht; zuzüglich des Grundfreibetrags für das Existenzminimum (8004 Euro) entspricht das einem sozialversicherungspflichtigen Jahreseinkommen von 60 886 Euro. In der Kranken- und Pflegeversicherung endet die Beitragspflicht aber bereits bei brutto 47 250 Euro, in der Renten- und Arbeitslosenversicherung bei 69 600 Euro. Es ist ein auffallender Widerspruch der Rechtsordnung, dass die nur der Bemessung nach Leistungsfähigkeit verpflichtete Einkommensteuer das Existenzminimum schont, hingegen die dem Solidarprinzip verpflichteten Solidarsysteme dies nicht tun; sie belasten vom ersten verdienten Euro an.

Der ehemalige Geschäftsführer des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger Franz Ruland dient hierfür als Kronzeuge: »Aus diesem Unterschied zwischen einheitlichem Beitragssatz und progressivem Steuersatz folgt, dass eine Beitragsfinanzierung sozialer Lasten vor allem die begünstigt, die hohe Einkommen haben und die daher bei einer Steuerfinanzierung mit einer höheren Belastung zu rechnen hätten. Doppelt begünstigt sind die, deren Einkommen oder dessen Spitzenbetrag überhaupt nicht beitragspflichtig ist. Daher ist die immer wieder anzutreffende Feststellung, dass Besserverdienende infolge eines sozialen Ausgleichs in der Rentenversicherung stärker herangezogen würden, unzutreffend.« 85

Im Ergebnis ist somit festzustellen, dass die Wohlhabenden im Lande zunehmend aus ihrer sozialstaatlichen Verantwortung entlassen wurden, und zwar umso mehr, je weiter die Verlagerung der Revenue auf indirekte Steuern und Sozialversicherungsbeiträge fortschritt. Mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der Solidarität, 86 das eine Umverteilung von stark zu schwach und von oben nach unten begrifflich einschließt, ist dieses Ergebnis unvereinbar. Per saldo ist die Belastungswirkung durch Sozialbeiträge aufgrund – erstens – der fehlenden Schonung des Existenzminimums, zweitens der Beitragsbemessungsgrenzen und drittens des linear proportionalen Tarifs extrem regressiv und eines Sozialstaats nicht angemessen. Je höher die Einkommen, desto geringer wird ihre soziale Verantwortung. Abbildung 5 macht das sichtbar. Dabei hat die Politik die Sozialbeiträge vor allem im Zuge der



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