Sommerkuss by Fabienne Siegmund

Sommerkuss by Fabienne Siegmund

Autor:Fabienne Siegmund [Siegmund, Fabienne]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: at Bookshouse Ltd.
veröffentlicht: 2015-04-26T16:00:00+00:00


Kapitel 11

Rain sah sich mit großen Augen um. Nach dem Friedhof der Engelskrähen hatte sie gedacht, nichts könnte sie mehr überraschen, aber sie musste einsehen, dass sie sich geirrt hatte.

Alles an diesem Ort war aus Kreidestaub geschaffen.

Der gelbe Weg, auf dem sie gingen.

Die Häuser, die neben ihnen in einen regenbogenbunten Himmel wuchsen.

Die Bäume und Autos.

All diese Dinge waren hier, aber zugleich wirbelten sie davon, verwaberten zu neuen Bildern.

Rain drehte sich im Kreis. Sie entdeckte ein weißstaubiges Fenster, durch das sie in ein anderes Bild sehen konnte, in dem sich etwas bewegte. Sie wollte darauf zu gehen, genauer ergründen, was dort war, da packte Stina sie am Arm.

»Ich habe gesagt, ihr dürft nichts und niemandem folgen!« Wütend kamen ihr die Worte über die zusammengepressten Lippen.

»Ich wollte doch nur durch das Fenster sehen.«

»Das mag sein. Aber wenn dich auch nur ein Kreidestaubkorn des Fensters berührt hätte, wärst du in das andere Bild gelangt, und wir hätten dich niemals wiedergefunden.«

»In ein anderes Bild?«

Stina nickte. »Wir sind hier im Kreideland. Hier leben wir, wenn die Straßen zu wild sind für uns. Aber ein jedes Kreidekind lebt ausschließlich in seinem Bild. Wir treffen hier niemanden, der wirklich ist, und wenn doch, ist er entweder unser Gast oder verloren.« Sie deutete auf das Fenster, hinter dem sich nun nichts mehr regte. »Manchmal können wir in die anderen Bilder hineinsehen wie durch ein Fenster, einen Schleier. Aber nie – niemals dürfen wir dieses Fenster oder diesen Schleier berühren. Wir würden in das andere Bild kommen, in die Welt von jemand anderem, aus der es kein Zurück mehr gäbe. Die Fenster auf der anderen Seite zeigen andere Bilder. Bleib auf dem gelben Weg. Er führt uns zu Väterchen Frost.«

Rain nickte. Schweigsam gingen sie weiter.

»Warst du schon mal bei ihm?«, fragte Rain nach einer Weile.

Stina sah auf. »Beim Winterkönig?«

»Ja.«

»Nein. Wie kommst du denn drauf?«

»Ich dachte, weil du mit Christian befreundet bist.«

Stina starrte sie an. »Befreundet?«, fragte sie spöttisch.

Rain nickte unsicher.

»Mit Christian ist man nicht befreundet«, erwiderte Stina knapp. Dann schwieg sie und es war jene Art des Schweigens, die man nicht so einfach brechen konnte.

Rain grübelte über Stinas Worte nach. Sie musste sich eingestehen, dass das Kreidemädchen recht hatte. Mit Christian war man nicht befreundet. Nicht einfach so. Sie sagte jedoch nichts dazu, sondern lief weiter, folgte dem Weg aus gelbem Kreidestaub, der unter ihren Füßen aufwirbelte und durch die Luft flirrte, wo er sich mit anderen Farben vermischte.

»Der Staub erzählt dem Wind die Geschichten, die die Kreide eingefangen hat«, flüsterte Caspar. »Und der Wind trägt sie zu den Ohren derjenigen, die die Bilder nicht sehen können, die aber seine Sprache sprechen.« Er sah Rain an und beantwortete die unausgesprochene Frage, die er offensichtlich in ihrem Gesicht gelesen hatte. »So hören die Ewigen, die ihre Häuser nie verlassen, die Geschichten der Stadt. Väterchen Frost. Mylady Summer June. Und wie sie alle heißen.«

Unwillkürlich blickte Rain zu Stina. Das Kreidemädchen hatte den Kopf eingezogen, als würde es einen Schlag erwarten.

»Deshalb meintest du, dass es deine Schuld ist«, flüsterte Rain, sich der Worte erinnernd, die Stina auf dem Friedhof gesagt hatte.



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