Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht by Hans-Martin Schönherr-Mann
Autor:Hans-Martin Schönherr-Mann
Format: epub
Herausgeber: DTV Deutscher Taschenbuch Verlag
Das Wesen der Frau
»Wie kann ein Mensch sich im Frau-Sein verwirklichen?« In der Erfüllung ihres weiblichen Wesens und nicht als bewusste Verwirklichung ihres Selbst? Die Frage nach der Verwirklichung lenkt den Blick zweifellos grundsätzlich auf das Problem eines Wesens der Frau. Existiert eine festgelegte Natur der Frau oder ist sie im Laufe der Evolution entstanden? Oder schafft sich jede Frau ihren Charakter selbst als eigene Besonderheit, die sie von anderen Frauen genauso unterscheidet wie von Männern? Auch wenn sich die Fronten etwas vermischen, entlang dieser Frage bricht die Konfrontation zwischen Traditionalisten und Feministen auf. Was macht die Frau zur Frau? Gott, die Natur, die Gesellschaft oder der Mann? Etwa die Eierstöcke? Vielleicht handelt es sich um eine platonische Idee, mutmaßt de Beauvoir, so dass irgendwo im Himmel solcher Ideen eine Idealfrau als Urbild herumschwirrt, vor der die irdischen Frauen verblassen, so wie der biblische Gott sich erst die Frau vorstellte, indem er das Wort aussprach und sie dann schuf. Trotzdem, so de Beauvoir, bedienen sich Frauen häufig noch eines aufreizenden Unterrocks, um an dieser Idee teilzuhaben, um Frauen zu sein. Frausein erweist sich als schwierig. Auch Psychoanalytiker hielten nur den Mann für einen Menschen, die Frau aber für ein Weibchen. Im Frühwerk interpretiert Sigmund Freud hysterische Entwicklungen bei Frauen noch als Widerstand gegen die ihr zugemutete sexuelle Passivität. Später dominierte der Ödipus-Komplex seine gesamte psychoanalytische Theorie, und zwar so weit, dass man sie weithin als ödipale Theorie bezeichnet, während der für Frauen vergleichbare Elektra-Komplex ein in jeder Hinsicht peripheres Dasein fristet – und das, obwohl Freud ja vornehmlich Frauen analysierte. Im Spätwerk spricht er sogar von einer kastrierten Frau.60 Wenn sich Frauen gegen die ihr zugedachte Rolle als Weibchen wehren, wenn sie sich schlicht wie Männer benehmen, dann bezeichnen das andere Psychoanalytiker wie Alfred Adler gar als ›männlichen Protest‹.61 Denn schließlich brechen sie in die Domänen der Männer ein, treiben beispielsweise Sport oder Politik, nehmen an künstlerischen oder intellektuellen Aktivitäten teil.
So sprechen Frauen von sich selbst um 1950 normalerweise nicht in der ersten Person Plural. »Wir«, so de Beauvoir, sagen nur Frauen auf Frauenkongressen. Die Männer bezeichnen Frauen als »die Frauen« und schaffen damit erst die weibliche Identität, die dann Frauen ihrerseits übernehmen. Der Mann also kreiert die Frau als das Andere, indem er sie als das ihm Ungleiche betrachtet. »Man sagt« so de Beauvoir, »im Französischen manchmal einfach le sexe, um die Frau zu bezeichnen; sie ist das Fleischliche, seine Wonnen und seine Gefahren.« (AG 194) Zwar geben Männer in der Regel zu, dass die Frau ein Mensch sei, die damit verbundene Ähnlichkeit zum Mann verbleibt jedoch auf einer allgemeinen Ebene: d. h. abstrakte Gleichheit kombiniert sich mit konkreter Ungleichheit. So entdeckt de Beauvoir die Andersheit als Bestimmung der Frau vom Mann aus, eine Perspektive, die sich dem Existentialismus verdankt und weit in die Ethik des 20. Jahrhunderts reicht. In der abstrakten Gleichheit nimmt der Mann zumeist nur sich selbst wahr. So darf es auch nicht verwundern, warum die Frau häufig mit dem Wasser verglichen wird. Denn in ihrer
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