Schluss mit der Sozialromantik!: Ein Jugendrichter zieht Bilanz (German Edition) by Andreas Müller

Schluss mit der Sozialromantik!: Ein Jugendrichter zieht Bilanz (German Edition) by Andreas Müller

Autor:Andreas Müller [Müller, Andreas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Verlag Herder
veröffentlicht: 2015-01-23T05:00:00+00:00


Nicht nur Rettung, auch Erziehung als Haftgrund?

Fälle, in denen ich mir gewünscht habe, das Konzept des Erziehungsrichters hätte schon Eingang in die deutsche Gesetzgebung gefunden, habe ich viele gehabt. Dazu gehören junge Menschen wie Martina, die frühzeitig hätten gerettet werden können, dazu gehören aber auch Jungs wie Jan, den ich erst als »fertigen« Straftäter zu sehen bekam, nachdem er bereits mit unter 14 Jahren die Grundlagen für seine Karriere gelegt hatte, bei mir jedoch aufgrund der Trennung von Familiengericht und Jugendgericht gar nicht auf dem Schirm war.

Jan war in einer hochproblematischen Familie aufgewachsen, wurde von seinen Eltern im Grunde abgelehnt und erfuhr nie die Liebe und Geborgenheit, die ein Kind braucht, um sich optimal entwickeln zu können. Jan wechselte zwischen Heimerziehung und einer zwischenzeitlichen Rückkehr in die Familie. Die familienrechtlichen Aufgaben lagen nicht bei mir, aber ich bekam ihn mit einzelnen kleineren Straftaten vor Gericht. Als er zum wiederholten Male vor mir stand, wurde mir sehr schnell klar: Das ist ein Kandidat, den du nur mit Haft dazu bewegen kannst, innezuhalten und vom vorgezeichneten Weg in die Schwerkriminalität abzukommen. Das ist etwas, was das Gewissen eines Jugendrichters extrem belasten kann, weil einem bei jeder neuen ambulanten Maßnahme, die man in solchen Fällen verhängt, vollkommen klar ist, dass man Gefahr läuft, neue Opfer zu schaffen.

So auch bei Jan. Ich hatte bereits mehrere Anklagen gegen ihn wegen einfacher und auch eine wegen schwerer Körperverletzung, Bedrohungen und auch Sachbeschädigungen vorliegen. Die Verfahrenslaufzeit war, wie üblich, relativ lang, und mir fehlten Gründe, U-Haft zu verhängen. Gründe wie Fluchtgefahr, Wiederholungsgefahr oder Verdunkelungsgefahr lagen bei Jan nicht vor. Jan war also bis zu seiner nächsten Verhandlung auf freiem Fuß, und es passierte, was passieren musste: Drei Wochen vor der Verhandlung schlug er erneut zu und verletzte einen anderen Jugendlichen schwer. Das Gericht erfuhr von diesem Vorfall am ersten Tag der Verhandlung durch die Jugendgerichtshilfe und setzte das Verfahren aus. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft reagierte sofort, besorgte sich die Akte von der Polizei und erhob einige Tage später eine weitere Anklage wegen erneuter gefährlicher Körperverletzung. Nun konnte ich auf Antrag der Staatsanwaltschaft – das zweite Verfahren begründete die Wiederholungsgefahr – Jan endlich in U-Haft nehmen, bis die Verhandlung anstand. Vollkommen klar war jedoch: Er hätte schon zum Zeitpunkt der zweiten gefährlichen Körperverletzung nicht mehr frei herumlaufen dürfen. Doch mir waren die Hände gebunden gewesen, obwohl ich die Gefahr gesehen hatte.

Genau aus diesen Gründen müsste es per Gesetz auch den Haftgrund der Erziehung geben. Ein Jugend- oder besser noch Erziehungsrichter müsste jederzeit argumentieren können, dass aufgrund der bisherigen Geschichte des Angeklagten eine Inhaftierung aus erzieherischen Gründen bereits vor Rechtskraft eines Urteils geboten ist. Im Fall Jan, und nicht nur in diesem Fall, hätte das ein zweites Opfer mit körperlichen Schäden verhindert.



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