Schilf by Juli Zeh

Schilf by Juli Zeh

Autor:Juli Zeh [Zeh, Juli]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Schöffling und Co.
veröffentlicht: 2012-07-03T22:00:00+00:00


3

Schneeweißer Putz, der das Sonnenlicht reflektiert. Offen stehende Haus- und Balkontüren, eine von Efeu umrankte Laterne, an der ein hochmodernes Rennrad lehnt. Das Haus, vom Duft des Blauregens parfümiert, ist hübsch anzusehen. Aber es gleicht einer leeren Verpackung. So viel Schönheit verlangt nach Glück, und die Menschen, die hier leben, sind nicht mehr glücklich. Dem Kommissar erscheint alles falsch und leer, als wäre die ganze Straße zur Postkarte, zu einer Erinnerung an sich selbst geworden. Als er den Steg betritt, kommen ihm Bonnie und Clyde auf dem anthrazitfarbenen Band des Gewerbebachs entgegen. Schilf zieht ein Rosinenbrötchen aus der Tasche, das er auf seinem langsamen Spaziergang durch die Innenstadt gekauft hat. Die beiden Enten stellen sich gegen die Strömung, so dass die Brotstücke direkt auf ihre Schnäbel zutreiben.

»Weg-weg-weg«, schnattern sie.

»Pass auf«, ruft der Kommissar ihnen zu. »Pass auf!«

Aber Bonnie und Clyde können mit den Aussagen des Papageien Agfa offensichtlich nichts anfangen. Sie wenden wie zwei Synchronschwimmer und paddeln in flottem Tempo den Bach hinunter. Schilf klopft sich Krümel von den Händen und tritt in den Hauseingang, um die Namen auf den Klingelschildern zu studieren. Gerade hat er gefunden, was er sucht, als ein Donnerschlag den Bauch des Hauses zum Dröhnen bringt. Oben hat jemand eine Tür ins Schloss geworfen. Der Klang schneller Schritte eilt die Treppe hinunter und einer Frau voraus, die gleich darauf am Kommissar vorbei aus der Haustür läuft. Er fasst sich an die Stirn, um einen Hut zu lüften, den er nicht trägt. Das Gesicht der Frau kann er nicht erkennen. Das blonde Haar tanzt ihr aufgeregt um den Kopf und stürzt über die Augen, als sie sich vornüberbeugt, um das Fahrrad aufzuschließen. Einstweilen steht der Kommissar wie versteinert. Die Frau ist mit einem ärmellosen Hemd und einer kurzen Stoffhose bekleidet; das Vormittagslicht verwandelt ihre gebräunten Arme und Beine in poliertes Holz. Im Kontrast dazu wirkt das blonde Haar viel zu hell, als hätte sie es von einer anderen, blassen Person geliehen. Die Frau ist wütend. Sie wirft ihr Fahrrad herum, schwingt ein Bein in die Luft und schiebt, schon in voller Fahrt, die Fußspitzen in die Schlaufen der Pedale. Wenige Sekunden später ist sie in eindrucksvoller Schräglage um die nächste Ecke verschwunden. Dem Kommissar kommt es vor, als hätte er noch nie einen schöneren Menschen gesehen.

Er verzichtet auf das Betätigen der Klingel und steigt die Treppe hinauf, bis er im zweiten Stock eine Wohnungstür erreicht, der anzusehen ist, dass jemand hinter ihr lauscht. Er tritt näher, legt ein Ohr ans Holz und setzt dem fremden Lauschen sein eigenes entgegen. Die Anspannung würde eine Glühbirne zum Leuchten bringen. Zwei Männer, getrennt nur durch ein Brett, richten mit aller Kraft ihre Sinne aufeinander, als wollten sie zu einem einzigen Wesen zusammenfließen. Die Tür wird aufgerissen.

Sebastian steht auf der Schwelle und trägt die Reste eines jäh unterbrochenen Streits auf den Lippen, die Lungen aufgepumpt, das Gaumensegel zum Schreien gespannt. Hilflos wandert sein Blick zwischen den Augen des Kommissars hin und her.

»Haben Sie einen Mülleimer?«, fragt Schilf.

Er streckt seinem Gastgeber in spe eine zerknüllte Papiertüte entgegen, aus der Brötchenkrümel fallen.



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