Rette dich, das Leben ruft by Boris Cyrulnik

Rette dich, das Leben ruft by Boris Cyrulnik

Autor:Boris Cyrulnik
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
veröffentlicht: 2013-08-26T16:00:00+00:00


Wenn die Fiktion zur Wahrheit wird

Im Kontext eines Friedens, in dem die kollektiven Erzählungen fröhlich vom Mut gegenüber den Besatzern berichteten und vom Fleiß, mit dem der Wiederaufbau und die Schaffung einer besseren Gesellschaft betrieben wurden, erschienen die Zeugnisse der Überlebenden obszön. Also schwiegen wir … von dem, was unsere Angelegenheit war.

Unlängst habe ich einige Menschen getroffen, die als Jugendliche in Auschwitz waren. Diese jungen Überlebenden dachten: »Niemand wird uns glauben können, also bleiben wir zusammen und heiraten untereinander.« Aus diesen Eheschließungen der Verzweiflung inmitten des allgemeinen Unverständnisses bildeten sich kleine, affektive Gruppen, die sich verstanden und stabile Paarbeziehungen hervorbrachten. Sie haben offen über den Albtraum ihrer Vergangenheit gesprochen … und mussten sich von ihren Kindern vorwerfen lassen, sie hätten sie in dem Grauen dessen, was ihnen, den Eltern, zugestoßen sei, aufwachsen lassen!

Wir mussten schweigen, um nicht länger in der Schande und im Entsetzen zu leben, um dem wiedererwachenden Land nicht die Freude zu verderben und um unsere Monstrosität nicht auf die Menschen zu übertragen, die wir liebten. Diese enorme Leugnung hat am Grund unserer Seele eine Krypta entstehen lassen, in der die Phantome murmelten. So präsentierten wir uns anderen Menschen ziemlich seltsam: häufig fröhlich, aktiv und selbstsicher. Bis dann plötzlich ein Schatten auf die Beziehung fiel: »Was hat er denn? Was verheimlicht er? Offenbar hat er sich etwas vorzuwerfen!« Sprechen teilte den Schrecken mit, Schweigen verbreitete unbestimmte Angst: Es war nicht leicht, als Überlebender zu leben.

Als ich wiedergefunden hatte, was mir noch von meiner Familie geblieben war, war ich ein Überlebender unter Überlebenden. Wie sollten wir uns da klar äußern?

Die Menschen, die auf ihren Krieg stolz waren, lebten Seite an Seite mit denen, die noch litten, und doch führten die beiden Gruppen einen eigenartigen Diskurs. Diejenigen, die sich nichts vorzuwerfen hatten, die ehrlichen Menschen, die Gaullisten und Kommunisten, zu denen Jacquot gehörte, hatten eine seltsame Redeweise entwickelt. Öffentlich äußerten sie sich klar und deutlich, doch zu Hause sprachen sie nüchtern, abstrakt, philosophisch und politisch, nie persönlich und emotional.

Ich war stolz auf Jacques’ Mitwirkung im Widerstand, aber ich wusste nichts über seine ganz normale Tätigkeit. Er sprach von der Größe der Partei der Erschossenen (parti des fusillés)29, engagierte sich politisch mit seinen Kampfgefährten, war ihnen noch eng verbunden, lachte mit ihnen und zitierte wie sie Parolen, die mir gefielen, aber nichts über ihren Alltag verrieten. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass dieser Rückzug in die Theorie eine Methode war, um private Gefühle und Gedanken für sich zu behalten. Erst ganz allmählich erfuhr ich, wie Jacques’ konkrete Beteiligung an dem Kampf ausgesehen hatte.30

In meiner Umgebung wurde von der Shoah gesprochen, aber nur sehr allgemein, nie im Detail und mit innerer Beteiligung. Die Menschen kommentierten einfach, was über den Krieg geschrieben wurde. Die Deutschen führten Buch, drehten Propagandafilme, schickten ihren Familien Fotos vom Urlaub in Auschwitz und den zu Skeletten abgemagerten Menschen, über die herzlich gelacht wurde.

Die Verfolgten schrieben unaufhörlich, machten sich Notizen, um ihre künftigen Erinnerungen und Zeugnisse vorzubereiten. In manchen Heften häuften sich die Daten, Fakten, geäußerten Wörter, die Namen der Henker und der Opfer.



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