Raus! by Striemer Rüdiger

Raus! by Striemer Rüdiger

Autor:Striemer, Rüdiger [Striemer, Rüdiger]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Berlin Verlag
veröffentlicht: 2015-04-22T16:00:00+00:00


URSACHENFORSCHUNG

Heute bin ich dran.

– Wollen Sie denn mal erzählen, wieso Sie hier sind?

Büttner setzt diesen Blick auf. Dabei senkt er den Kopf stets nur genau so wenig, dass er über den oberen Rand seiner Brille gerade hinwegsehen kann – aber auch nur, wenn er dabei die Augen weit aufreißt, als wolle er mal genau nachzählen, wie viele Sorgenfalten sich in meine Stirn gegraben haben. Demnächst werde ich die Abläufe hier so weit verstanden haben, dass mir bekannt sein wird, wie die Therapeuten sich auf dem Laufenden halten. Jeden Mittag um eins, also wenn unsereins sich beim Body Scan entspannt und dabei gemächlich durch seinen Körper schreitet, treffen sich die Therapeuten, um die einzelnen Patienten durchzusprechen. Genau genommen nehmen dabei nicht nur die Therapeuten teil, sondern auch ein Vertreter des Pflegepersonals sowie einer der Ärzteschaft und sogar je ein Delegierter der Speisesaal-Bedienung, des Reinigungspersonals und der Physiotherapeuten. Man will hier alle Aspekte beleuchten, und dazu gehört eben auch, dass man Auffälligkeiten beim Essen bespricht (wenn zum Beispiel jemand grundsätzlich alles zurückgehen lässt oder nach dem Essen auffällig schnell und zuverlässig auf dem Klo verschwindet) oder solche auf dem Zimmer (die in der Klospülung versteckte Flasche Schnaps kommt eben tatsächlich vor). Aber viel wichtiger sind natürlich die Aspekte, die sich aus den normalen Therapiestunden ergeben. Man durchläuft hier als Patient eine Berg-und-Tal-Fahrt der Gefühle, und da ist es wichtig, dass alle Beteiligten wissen, wo der Patient gerade steht und was die aktuellen Themen sind.

Da kommen also ziemlich viele Leute zusammen, jeden Mittag; nicht nur unter uns Patienten (zur Entspannung), sondern auch beim Personal (zur Abstimmung), und deshalb sind die Gruppen A bis D sowie E bis G jeweils zu einem Bereich zusammengefasst, und es gibt entsprechende Zusammenkünfte der Bereichstherapeuten, sonst würde man nicht täglich über jeden Patienten alle wesentlichen Informationen austauschen können. Wäre mir das alles jetzt schon klar, dann wüsste ich auch, dass Büttner natürlich längst bekannt ist, warum ich hier bin, und dass seine Frage demnach vor allem der Gesprächsdramaturgie dient. Weiß ich aber nicht.

– Na ja, wie ich schon sagte: Ich habe eine Angststörung, und ich bin hier, um sie loszuwerden.

Büttner blickt starr über seine Brille, mit unverändert aufgerissenen Augen. Seinen körperlichen Schwerpunkt hat er mittlerweile auf die rechte Armlehne seines Stuhls verlagert, in meine Richtung. So signalisiert er mir, dass ich weiterhin dran bin.

– Ja, Herr Büttner, was soll ich sagen? So ist das, und ich fühle mich gar nicht wohl dabei, wollen Sie noch mehr wissen? Über mich?

Büttner nickt mit weiterhin aufgerissenen Augen heftig und kurz auf und ab. Sagt nichts. Ich weiß ja schon, dass ich dran bin. Also gut. Ich erzähle also von mir und meinem Werdegang des Wahnsinns, vom Weg in den Abgrund, bis hierher.

– Wenn Sie »Angststörung« sagen, fühlen Sie sich dabei besser, als wenn Sie »Depression« sagen müssten?

Ich bin erst mal irritiert. Äähhh – was ist das für eine Frage! Wozu ist das bedeutend? Das wäre ja, wie wenn einer mich fragte, ob mir Angststörung lieber sei als Herzschleimbeutelentzündung. Denke ich. Sage:

– Nein, dabei fühle ich mich so, als wenn ich »Angststörung« sagen würde, kein bisschen anders.



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