Open City by Cole Teju

Open City by Cole Teju

Autor:Cole, Teju [Cole, Teju]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2012-10-24T22:00:00+00:00


10

Ich rannte mit meiner Schwester durch Lagos. Wir liefen einen Marathon und mussten Landstreicher und Straßenköter aus dem Weg schieben. Dabei habe ich gar keine Schwester. Ich bin Einzelkind. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, war es stockdunkel, ich konnte meine Hand nicht vor Augen sehen. Verkehrslärm drang an das warme Bett, in dem ich lag. Wie meistens, wenn man abrupt aus dem Schlaf gerissen wird, war jedes Zeitgefühl dahin. Doch sofort befiel mich eine tiefere Panik: Ich wusste nicht, wo ich war. Ein warmes Bett, Dunkelheit, Verkehrsgeräusche. Was ist das für ein Land? Was ist das für ein Haus, mit wem bin ich hier? Ich streckte die Hand aus, doch da war niemand. War ich allein, weil ich keine Partnerin hatte oder weil meine Partnerin weit weg war? Ich schwebte in der Dunkelheit, mir selbst unbekannt, gebannt von dem Gefühl, dass die Welt existierte, ich jedoch kein Teil mehr von ihr war.

Die erste Frage, die beantwortet wurde, war die nach der Partnerin: Ich hatte keine, ich war allein. Diese Tatsache erreichte mich, und sofort war ich ruhiger. Die Panik hatte darin bestanden, mich nicht zu erinnern. Dann fiel mir alles andere ein: Ich war in Brüssel, Belgien, in einer Mietwohnung; die Wohnung befand sich im Erdgeschoss des Gebäudes, und das Poltern draußen war die Müllabfuhr; sie kam freitags, vor Sonnenaufgang. Ich war jemand, nicht bloß ein Körper ohne Dasein. Wie aus großer Entfernung kehrte ich zu mir selbst zurück. Die Anstrengung, den scheinbar trivialen und doch so existenziellen Ballast meiner Identität zusammenzutragen, dass mein Herz womöglich aufgehört hätte zu schlagen, wenn es nicht gelungen wäre – diese Anstrengung hatte mich erschöpft. Ich sank zurück in einen traumlosen Schlaf, draußen polterten die Müllwagen weiter. Als ich wieder aufwachte, war es bereits Mittag. Der Regen dämpfte das Tageslicht im Raum. Es regnete seit sieben Tagen, ein ewiges Tropfen und Triefen und Rieseln ohne jede biblische Erhabenheit. Es erinnerte mich an den einzigen anderen Dauerregen, der sich mir eingeprägt hatte. Ich war damals neun Jahre alt, es geschah also in dem Jahr, bevor ich ins Internat kam.

An jenem Morgen war es noch klar gewesen, heiß, ein Tag wie jeder andere in der endlosen Reihe ununterscheidbar heißer Tage, an die wir zu allen Jahreszeiten gewöhnt waren. Ich war um zwei aus der Schule gekommen, hatte gegessen und einen Mittagsschlaf gemacht, was ungewöhnlich war. Als ich aufwachte, war meine Mutter aus dem Haus gegangen, zur Bank oder zum Markt. Mein Vater würde erst einige Stunden später von der Arbeit kommen, nur meine Mama, die Mutter meines Vaters, war zu Hause. Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss, hinter der Küche, im selben Teil des Hauses, wo sich auch das Arbeitszimmer befand.

Ich schaute nach ihr, aber sie schlief noch. Der Strom war ausgefallen. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte ich sicher ferngesehen. An Schultagen war mir das verboten, und das einzig Interessante am Wochenende waren die Sportsendungen: die englische Liga am Samstagabend, die italienische am Sonntag. Deshalb verstieß ich manchmal gegen die Regel, wenn meine Mutter an einem Nachmittag unter der Woche nicht da war.



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