Niceville by Carsten Stroud

Niceville by Carsten Stroud

Autor:Carsten Stroud [Stroud, Carsten]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832186210
Herausgeber: DuMont Buchverlag
veröffentlicht: 2012-01-30T23:00:00+00:00


Clara Mercer

Stationsschwester

»Tut mir leid, Sir, aber die Besuchszeiten sind von fünf bis acht.«

Merle blieb an der Theke stehen, schenkte Clara Mercer sein bestes Lächeln, das, in Anbetracht seines düsteren, scharf geschnittenen Gesichts und der Raubvogelnase, ziemlich gut ausfiel. »Das weiß ich, Miss Mercer, aber –«

»Bitte nennen Sie mich Clara.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Clara. Ich heiße Merle. Tut mir leid, dass ich Sie außerhalb der Besuchszeit störe, aber ich bin nur heute in der Stadt – gerade mit dem Bus gekommen.«

»Mit dem Blue Bird?«, fragte sie mit einem kurzen Blick auf seine Farmarbeiterkleider. Die Frage überraschte Merle. Es war, als hätte sie ihn erwartet.

»Ja. Und ich weiß nicht, wie lange ich bleiben kann.«

»Tja«, sagte sie und sah in den langen, halbdunklen Korridor hinter ihm. »Ich glaube, ich weiß, warum Sie hier sind. Wir dürfen eigentlich nicht … Aber im Augenblick ist ja niemand da. Die anderen sind alle in der Teambesprechung, und ich soll nur die Anrufe entgegennehmen. Zu wem wollen Sie denn? Zu Rainey vielleicht?«

Merle sagte ja.

Claras Gesicht wurde ernster, und das kühle Licht in ihren Augen wurde noch kühler.

»Ja. Es ist so weit, nicht? So eine traurige Geschichte. Sind Sie ein Verwandter?«

»Ja. Ein entfernter Verwandter. Aber ich würde ihn gern sehen, wenn das geht.«

»Er wird Sie nicht erkennen«, sagte sie in gedämpftem Ton. »Er ist eigentlich gar nicht ansprechbar … Sie können nur ein paar Minuten bleiben. Und es besteht auch Infektionsgefahr, darum müssen Sie einen Kittel überziehen.«

Sie wies auf ein Regal in einer Nische, in dem zusammengefaltete weiße Kittel lagen. Merle ging hin, suchte einen aus und zog ihn an, während Clara etwas auf einem Formular ankreuzte. Als er wieder zur Theke kam, sah sie ihn an und lächelte mitfühlend.

»Er liegt in vier achtzehn, das ist auf der Privatstation, den Gang entlang und durch die Glastür. Sie dürfen die weiße Linie auf dem Boden nicht übertreten. Ich würde mitkommen, aber ich muss beim Telefon bleiben.«

»Ich pass schon auf«, sagte Merle und setzte sich bereits in Bewegung. Sein Herz klopfte, und die Kehle wurde ihm eng. Er fand die Tür mit der Nummer 418, blieb stehen und spähte durch das stark geriffelte Glas des Fensters in der oberen Türhälfte, auf dem Intensiv – Privat stand. Er konnte, verzerrt und verschwommen, ein spärlich beleuchtetes Zimmer erkennen, etwas Großes, Weißes und darüber eine Reihe grüner Lichter.

Er öffnete die Tür und trat in ein kleines, aber gut ausgestattetes Krankenhauszimmer. Eine Gestalt lag, zusammengekrümmt wie ein Fötus, auf der rechten Seite, ein kleiner Junge. Seine Wange ruhte auf dem Frotteebezug des Kopfkissens.

Er war mit einem hellblauen Laken zugedeckt, seine Augen waren halb geöffnet, aus dem Mund rann ein Speichelfaden, und rings um das Bett waren Infusionsständer und piepende Apparate aufgebaut, deren gewundene Schläuche und Kabel unter der Bettdecke verschwanden.

Es war kühl und still, nur die leisen Geräusche der Maschinen waren zu hören. Ein leichter Geruch nach Urin lag in der Luft. Auf dem Boden war eine weiße Linie mit der Aufschrift: BITTE NICHT ÜBERTRETEN.

Merle blieb vor der Linie stehen und betrachtete den Jungen. Sein Alter war schwer zu schätzen – zwölf, vielleicht dreizehn.



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