Middlesex by Jeffrey Eugenides
Autor:Jeffrey Eugenides [Eugenides, Jeffrey]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
veröffentlicht: 2011-12-14T23:00:00+00:00
DIE MITTELMEERKOST
Es gefiel ihr nicht, auf der Erde zurückgelassen zu sein. Es gefiel ihr nicht, in Amerika zurückgelassen zu sein. Sie hatte das Leben satt. Treppensteigen fiel ihr zunehmend schwer. Mit dem Tod ihres Mannes war das Leben einer Frau vorbei. Jemand hatte sie mit dem bösen Blick verhext.
Das waren die Antworten, die Father Mike uns am dritten Tag, nachdem Desdemona sich geweigert hatte aufzustehen, gab. Meine Mutter hatte ihn gebeten, mit ihr zu sprechen, und er war, die Fra-Angelico-Brauen in milder Verzweiflung gehoben, vom Gästehaus zurückgekehrt. »Keine Sorge, das geht vorbei«, sagte er. »So etwas begegnet mir bei Witwen ständig.«
Wir glaubten ihm. Aber mit den Wochen wurde Desdemona nur noch bedrückter und in sich gekehrter. Sonst gewohnt, früh aufzustehen, schlief sie nun lange. Wenn meine Mutter ihr das Frühstückstablett brachte, öffnete Desdemona ein Auge und bedeutete ihr, es hinzustellen. Eier wurden kalt. Kaffee bekam einen Film. Das Einzige, was sie aufrichtete, war die tägliche Abfolge der Seifenopern. Getreulich wie eh und je sah sie sich die untreuen Ehemänner und intriganten Ehefrauen an, aber sie rügte sie nicht mehr, als hätte sie aufgegeben, die Irrtümer der Welt zu korrigieren. Ans Kopfteil gelehnt, das Haarnetz in die Stirn gezogen wie ein Diadem, sah Desdemona altertümlich und unbeugsam aus wie die ältere Königin Viktoria. Eine Königin einer machtvollen Insel, die nur ein Schlafzimmer voller Vögel umfasste. Eine Königin im Exil, die nur noch zwei Bedienstete hatte, Tessie und mich.
»Bete für mich, dass ich werde sterben«, wies sie mich an.
»Bete für jiajia, dass sie sterbt und wieder mit papou zusammen ist.«
... Aber bevor ich mit Desdemonas Geschichte fortfahre, möchte ich Sie im Hinblick auf Neuigkeiten mit Julie Kikuchi auf den letzten Stand bringen. Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Es gibt keine. An unserem letzten Tag in Vorpommern wurde es zwischen Julie und mir sehr innig. Vorpommern gehörte einmal zur DDR. Die Strandvillen von Heringsdorf hatten fünfzig Jahre lang verfallen dürfen. Jetzt, nach der Wiedervereinigung, herrscht ein Immobilienboom. Als Amerikaner spitzten Julie und ich da automatisch die Ohren. Während wir die breite Strandpromenade Hand in Hand entlangschlenderten, überlegten wir, diese oder jene bröckelnde alte Villa zu kaufen und herzurichten. »An die Nudisten könnten wir uns gewöhnen«, sagte Julie. »Wir könnten uns auch einen pommerschen Spitz zulegen«, sagte ich. Ich weiß nicht, was über uns gekommen war. Dieses »wir«. Wir waren verschwenderisch damit, wir waren leichtsinnig gegenüber den Folgen. Künstler haben einen sicheren Instinkt für Immobilien. Und Heringsdorf gab Julie Auftrieb. Wir erkundigten uns nach einigen Eigentumswohnungen, in diesen Breiten etwas Neues. Wir besichtigten zwei, drei Häuser. Es war alles sehr ehelich. Unter dem Einfluss jenes alten, aristokratischen Seebads aus dem neunzehnten Jahrhundert benahmen auch Julie und ich uns altmodisch. Wir besprachen die Gründung eines gemeinsamen Hausstands, noch bevor wir überhaupt miteinander geschlafen hatten. Aber von Liebe oder Heirat war natürlich nicht die Rede. Nur von Anzahlungen.
Auf der Rückfahrt nach Berlin senkte sich jedoch eine vertraute Furcht auf mich herab. Während wir die Straße dahinbrumm-ten, schaute ich voraus. Ich dachte an den nächsten Schritt und daran, was von mir verlangt würde.
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